Das elfte Kapitel des Römerbriefes behandelt die komplizierte Haltung Israels zum Heil. Das Thema wird durch die persönliche Betroffenheit des Apostels und die drei Zeitebenen in denen das Kapitel handelt, noch zusätzlich verkompliziert. Es ist komplexe Theologie in der Sprache menschlicher Betroffenheit. Damit ist es auch ein schönes Lehrkapitel darüber wie Theologie generell betrieben werden soll. Was wäre das Nachdenken über Gott ohne persönliche Betroffenheit? Wer unpersönlich über Gott nachdenkt ist kein Theologe sondern Philosoph – er behandelt ein Thema ohne mit Gott in Beziehung zu stehen.
Die vorangegangenen Kapitel legen den Verdacht nahe, dass Gott sein Volk Israel verstossen hat. Da fängt Paulus Betroffenheit an:
Nein! Das kann ich nicht glauben!
Denn auch ich bin ein Jude,
Abrahams Nachfahr,
imd gehöre zu Benjamins Stamm.
Nein und abermals Nein!1
Insbesondere die starke Sprache, die Walter Jens hier benutzt, macht es schwer zu entscheiden, ob Paulus sich leidenschaftlich gegen eine unangenehme Wahrheit wehrt oder ein theologisches Argument vorbringen will. Aber zum Glück gibt es ja den Zusammenhang! Der macht klar, dass Paulus ein Argument vorbereitet. Es gab schon einmal eine Zeit in der Geschichte Israels, als die meisten Juden sich gegen Gott gestellt haben. Damals, zur Zeit von König Ahab und Prophet Elia war nicht das ganze Volk verstockt, es gab noch einen kleinen Überrest, der seine Knie nicht vor den fremden Göttern beugte: 7000 Männer, die treu zu ihrem Herrn standen (1.Könige 19,18).In dieser Zeit ist es dasselbe: wieder widersteht das Volk an sich Gott, aber es gibt einen Überrest, zu dem auch Paulus gehört:
Und so ist es auch jetzt,
durch Gottes Gnade auserwählt,
ein kleiner Rest vorhanden:
die Gemeinde der wahrhaft Getreuen,
eine Schar von Gerechten,
die Gott beruft: Du! Und Du! Und Du!
[…]
Was das Volk Israel – das ganze Volk! – suchte,
die Gemeinschaft mit Gott, hat es verfehlt.
Nur eine kleine Schar der Erwählten
erreichte das Ziel.2
An dieser Feststellung gibt es zwei interessante Aspekte, die man noch weiter diskutieren sollte. Zum einen zeichnet es den kleinen Überrest aus, dass er das neue Heil in Christus angenommen hat. Die Verstockten macht es aus, dass sie Jesus nicht als Messias angenommen haben und stattdessen weiter Gott durch den Buchstaben des Gesetzes dienen. Das eröffnet eine Diskussion, die auch heute noch brandaktuell ist: gibt es noch ein Heil in Israel, oder nicht? Auf diese Frage geht Paulus später ein. Zum anderen drängt sich die Frage auf, wie die Verstockung zustande kommt. Ist sie menschengemacht und auf falsche Entscheidungen zurück zu führen oder hat Gott Menschen verstockt und andere erleuchtet? Auch das ist eine brandaktuelle Frage, die wieder einmal mit der größeren Frage nach der Willensfreiheit des Menschen zusammenhängt.
Jens lese ich so, dass nur eine kleine Schar der Erwählten es geschafft hat. Das würde bedeuten, dass alle, das ganze Volk Israel erwählt war, aber nur eine kleine Schar in der Gemeinschaft Gottes angekommen ist. Leider lesen sich alle anderen Bibelübersetzungen anders. Luther übersetzt beispielsweise:
Wie nun? Was Israel sucht, das hat es nicht erlangt; die Auserwählten aber haben es erlangt. Die andern sind verstockt, (Römer 11,7)
So gelesen gibt es Menschen, die besonders auserwählt wurden um den neuen Weg in Christus zu erkennen. Ich meine aber, dass der Gesamtzusammenhang sowohl des Römerbriefes als auch der gesamten Schrift, gegen eine solche Interpretation spricht. Paulus predigt das Evangelium gerade auch im Hinblick darauf, dass Juden dadurch zum Glauben an Christus kommen möchten:
Als Sendbote Gottes,
[…]
preise ich meinen Dienst nicht zuletzt deshalb,
weil ich darauf hoffe,
die eigenen zum Nacheifern zu reizen
und wenigstens einige unter ihnen zu retten.3
Überdies hat Jesus in einem Gleichnis deutlich gepredigt, dass das ganze jüdische Volk zum Glauben gerufen ist, aber nicht gefolgt ist (Matthäus 22) und er verstand seinen Auftrag als Dienst am ganzen Volk (Markus 7,24). Der Grund der Verstockung ist in menschlichen Ursachen wie Tradition zu suchen, nicht in einem Wirken Gottes.
Die zitierte Stelle bietet auch eine Antwort auf die andere Frage. „Nein, es ist kein Heil mehr in Israel“. Könnte man noch durch das Gesetz gerecht werden, wäre der halbe Römerbrief und der Galaterbrief hinfällig. Ein großer Teil der Diskussionen im Neuen Testament drehte sich genau um diese Frage. Die Aneignung des Heils ist sicherlich der größte Bruch zwischen den Testamenten überhaupt. Ich kann mir gut vorstellen, dass da einiges Konfliktpotential lag und einige theologische Diskussionen nötig waren.
[Damit dieser Post nicht viel zu lang wird, unterbreche ich ihn hier und gehe übermorgen der Frage nach der Kontinuität des Heils zwischen den beiden Testamenten weiter nach.]
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