Von Christian Morgenstern stammt eines der berühmtesten zitate überhaupt: „nicht sein kann, was nicht sein darf“. ein zitat, mit dem wir schon manchem geantwortet haben, der die auferstehung anzweifelte. im grunde ist die auferstehung jesu von den toten eine der best-belegtesten tatsachen der älteren geschichte überhaupt. aber weil sie unser weltbild in frage stellen würde, streiten wir sie ab: „nihct sein kann, was nihct sein darf…“

wie auch immer. morgenstern war ein satirischer dichter, der in erster linie mit den „galgenliedern“ bekannt wurde. ich bin nicht 100%ig sicher, aber ich glaube, das folgende gedicht, „der werwolf“ ist den galgenliedern entnommen.


Der Werwolf

Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind, und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: Bitte, beuge mich!

Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:

„Der Werwolf“, – sprach der gute Mann,
„des Weswolfs“- Genitiv sodann,
„dem Wemwolf“ – Dativ, wie man’s nennt,
„den Wenwolf“ – damit hat’s ein End.‘

Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
Indessen, bat er, füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!

Der Dorfschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäb’s in großer Schar,
doch „Wer“ gäb’s nur im Singular.

Der Wolf erhob sich tränenblind –
er hatte ja doch Weib und Kind!!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.

ansonsten schrieb er einmal in einem längeren gedicht über die kunst der gedichtanalyse über manche interpreten:

sie bestimmen mit der schärfe eines dolches
ein gedicht schlechthin als solches.

das sprach mir aus der seele, als ich im grundkurs deutsch „mahomets gesang“ zu tode analysieren musste. ist das nicht eines der grundübel des damaligen schulsystems gewesen, dass man zwar gedichte analysieren konnte und etwas hineinzulesen vermochte, das den autor vielleicht das gruseln lehrte, aber keine poesie geniessen konnte?
ich glaube es war enzensberger, der einmal vorgeschlagen hat, dass auch germanisten eine mappe abgeben sollten um zum studium zugelassen zu werden. wenn künstler beweisen müssen, dass sie kunstschaffende sind, warum sollten nihct auch sprachwissenschaftler beweisen, dass sie sprachkunstwerke schaffen können? vielleicht sähe es an unseren schulen besser aus, wenn die deutschlehrer eine liebe zu ihrer sprache hätten und nicht nur über verse, sondern auch in versen sprechen könnten!

ich hatte in einem prüfungsvorbereitenden kurs in der berufsschule einen literaturlehrer, der frei gedichte rezitiert hat und dem anmerkte, dass er literatur liebte. das war eine neue erfahrung für mich, aber ich könnte mir vorstellen, dass er die kraft hatte, leidenschaft für sprache zu wecken. leider ging der kurs nur über ein wochenende.
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CD im Player:
– Jean Sibelius: Finlandia (eines meinder klassischen Lieblingsstücke)

Bücher neben dem Sessel:
– complete poems of emily dickinson

da fällt mir gerade noch eines der ironischeren heinegedichte ein:


das fräulein stand am ufer und seufzte lang und bang
es rühret sie so sehre der sonnenununtergang
mein fräulein sein sie ruhig, dies ist ein altes stück
hier vorne geht sie unter und kehrt von dort zurück

wahrscheinlich waren es solche verse, die ihm den spitznamen „die spottdrossel im deutschen dichterwald einbrachte“.

Ein spätes Gedicht von Heinrich Heine 1797-1856, das ich mir vorn in meine Bibel geschrieben habe:


Zerschlagen ist die alte Leier,
Am Felsen, welcher Christus heisst!
Die Leier, die zur bösen Feier
Bewegt ward von dem bösen Geist.

Die Leier, die zum Aufruhr Klang,
Die Zweifel, Spott und Abfall sang.
O Herr, o Herr, ich knie nieder,
Vergib, vergib mir meine Lieder!

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CD im Player:
– Gustav Mahler: Sinfonie nr.6

Ich habe Edgar Allan Poe (1809-1849) als Jugendlicher schätzen gelernt. Das untenstehende Gedicht stammt aus einem Buch, das ich mit sechzehn Gekauft habe. Der Walter-Verlag hat zu dieser Zeit eine sehr schöne vierbändige Gesamtausgabe der Schriften Poes herausgebracht. Das waren die ersten Bücher, für die ich richtig gespart habe (sie haben ca.86DM/Band gekostet). Leider war ein Band bereits nicht mehr lieferbar als ich das Geld zusammen hatte und ich habe ihn erst Jahre später in einem Antiquariat in München(?) erworben.
Wie auch immer. In den düsteren Jahren habe ich Poe geliebt und Baudelaire. Die ganze Riege. Am bekanntesten von Poes düsterer Poesie ist „the raven“, zurecht, denn es ist meiner Ansicht nach eines der besten englischen Gedichte überhaupt.
Hier kommt die zweite Strophe von

a dream within a dream

i stand amid the roar
of a surf-tormented shore,
and i hold within my hand
grains of the golden sand –
how few! yet how they creep
through my fingers to the deep,
while i weep – while i weep!
o god! can i not grasp
them with a tighter clasp?
o god! can i not save
one from the pitiless wave?
is all that we see or seem
but a dream within a dream?

Es gab einige Situationen in meinem Leben, in denen ich mich genauso gefühlt habe. Das Leben (mit Jesus) und der Gemeindebau bringt es manchmal mit sich, dass man sich einfach nur ohnmächtig fühlt. Wie oft kümmert man sich um ein „Sandkorn“ nur um es wieder an das „reulose Meer“ zu verlieren?
Aber anyway, das ist kein grund zur Verzweiflung. So lange die Dunkelheit draussen bleibt, passt es schon. Die Wüste breitet sich aus; weh dem, der Wüsten in sich birgt. (schon wieder Nietzsche…)

Mit Poe geht es mir wie mit Nietzsche: ein Regalmeter, da kann ich schlecht was empfehlen. Auch das Internet ist voll von ihm. Was seine Gedichte angeht denke ich, dass es keine Übersetzung gibt, die der Qualität der Originale nahe kommt. Und das, obwohl alle Gedichte von Arno Schmidt und Hans Wollschläger übersetzt wurden.
Aber das ist ja das Dilemma mit der Poesie: sie lebt nur in einer Sprache und stirbt unweigerlich durch Übersetzung.
Um ein Beispiel zu nennen folgt die dritte Strophe des Raben in englisch und deutsch:

Ah, distinctly I remember it was in the bleak December,
And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor.
Eagerly I wished the morrow; – vainly I had sought to borrow
From my books surcease of sorrow – sorrow for the lost Lenore –
For the rare and radiant maiden whom the angels named Lenore –
Nameless here for evermore.

Ah, ich kann´s genau bestimmen: im Dezember war´s, dem grimmen,
und der Kohlen matt Verglimmen schuf ein Geisterlicht so leer.
Brünstig wünscht ich mir den Morgen; – hatt´ umsonst versucht zu borgen
von den Büchern Trost dem Sorgen, ob Lenor´ wohl selig wär´-
ob Lenor´, die ich verloren, bei den Engeln selig wär´-
bei den Engeln – hier nicht mehr.

In den Sechzigern hat sich Roger Corman Poe´s angenommen und einige sehr sehenswerte, wenn auch freie, Verfilmungen produziert. Unter anderem mit so genialen Schauspielern wie Vincent Price, Peter Lorre, Boris Karloff und Jack Nicholson.
Hm, ich mag alte Gruselfilme.
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CD im Player:
– Gustav Mahler: Sinfonie Nr.6

Nietzsche (1844-1900) hat mich ohnehin sehr beeinflusst und beeindruckt. ich habe so ziemlich alles von ihm gelesen, manches mehrmals. besonders seine aphorismen, aber auch die gedichtehaben immense literarische qualität. an nietzsche besticht die komplexität. hat er irgendwann mal was gesagt, dem er nicht in anderem zusammenzuhang widersprochen hat? ich bin nicht sicher. er hat seine eigenen büchern mit randbemerkungen wie „gut. stimmt! idiot! trottel!“ versehen…

jedenfalls kann ich zwei seiner gedichte auswendig:


ja, ich weiss woher ich stamme
ungesättigt gleich der flamme
glühe und verzehr ich mich
licht wird alles was ich fasse
asche, alles was ich lasse
flamme bin ich sicherlich

vielleicht traf das wirklich auf ihn zu. aber vielmehr wünschte ich, es träfe auf uns zu, dass wir flammen sind, die die menschen um uns herum entzünden. wie sagtedoch augustinus: in dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst. ein leben in der kraft des heiligen geistes muss zu sehr ähnlichen ergebnissen führen wie in nitzsches gedicht beschrieben.

das andere ist erheblich düsterer und kommt mir immer wieder mal in den sinn, wenn ich mich in dieser welt zu gut aufgehoben fühle und anfange hier sesshaft zu werden und nicht mehr nach der ewigen stadt (hebräer 13,14) zu trachten.


herbstlied (vereinsamt)*

Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein, –
Wohl dem, der jetzt noch – Heimat hat!

Nun stehst du starr,
Schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt entflohn?

Die Welt – ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends Halt.

Nun stehst du bleich,
Zur Winter-Wanderschaft verflucht,
Dem Rauche gleich,
Der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton! –
Versteck, du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrein
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein, –
Weh dem, der keine Heimat hat!

*der titel wird in verschiedenen ausgaben verschieden angegeben.

eine bibliographie ist schwer wiederzugeben. ich habe hier ca. einen regalmeter nietzschewerke. im internet findetman sehr viel über ihn. kein wunder, er war einer der grössten deutschen philosophen. aber da es hier nur um die lyrik geht, von der er nihct sooo viel geschrieben hat, kann ich einen reclam-band nietzsche-gedichte empfehlen.

und denkt immer an seine berühmte ansage:

„bessere lieder müssten sie mir singen, dass ich an ihren erlöser glauben lernte. erlöster müssten mir seine jünger sein.“
(sinngemäss)


wo ich gerade bei emily dickinson war, sie war zu ihren lebzeiten ein verkanntes genie. insgesamt sind von ihren über 1700 gedichten während ihres lebens weniger als zwei dutzend bekannt geworden. ich bin unsicher, ob überhaupt eines veröffentlicht wurde. sie lebte von 1830 bis 1886 sehr zurückgezogen in amhurst, massachusetts. nach dem wenigen was ich über ihr leben weiss, scheint sie an agoraphobie gelitten und das haus in dem sie wohnte nur selten verlassen zu haben.
insgesamt ist sie bestimmt niemand, der mich beeinflusst hat, aber ich mag ihre poesie.

hier eine kleine kostprobe, ein gedicht von 1852, das mir himmelssehnsucht gibt:

on this wondrous sea
sailing silently,
ho! pilot, ho!
knowest thou the shore
where no breakers roar –
where the storm is o´er?

in the peaceful west
many the sails at rest –
the anchors fast –
tither i pilot thee
land ho! eternity!
ashore at last!

es gibt verschiedene websites, die sich mit ihrem schaffen auseinandersetzen und man findet viele ihrer gedichte online. ob es eine brauchbare deutsche übersetzung gibt ist mir nicht bekannt.
ich zitiere sie nach:
thomas h. johnson (editor): the complete poems of emily dickinson, new york 1961. (back bay books)

ich habe mir nie viel aus gedichten gemacht. keine ahnung warum, mein vater hat mir früher immer deutsche balladen vorgelesen und eigentlich hatte ich so einen ganz guten einstieg in die welt der gereimten literatur. trotzdem hat sich da nie eine richtige liebe raus entwickelt. dennoch gibt es ein paar gedichte und dichter, die mich wirklich beeindruckten und als ich heute im garten sass (bin schon wieder erkältet und hoffe auf die heilkraft frischer luft) und dabei emily dickinson las, dachte ich an ein paar wenige gedichte, die ich auswendig kenne und die mir immer wieder was sagen.
ich werde diese einfach mal hier zum besten geben.

a word is dead
when it´s said,
some say.

i say it just
begins to live
that day .

(ED, 1872)

Ich habe gerade mein fünftes Buch von Brennan Manning zuende gelesen. Ich kann ihn wirklich sehr empfehlen. Der Stil ist manchmal etwas anstrengend, weil er im Schnitt fast ein Zitat pro Seite bringt und das natürlich nicht eben dazu beiträgt, dass seine Bücher „fliessen“.
Aber ich mag seine Ehrlichkeit, seine Suche nach Gott, seine Schwierigkeiten mit Kirche und Christen, die er immer wieder zu überwinden versucht. Er ist ein Autor mit viel Seelsorgerlicher Tiefe. Somit sind seine Bücher nichts für Quer- und Schnellleser. Da geht es nicht um Informationen sondern um Meditation. Checkt ihn mal, wenn ihr solche Bücher mögt!

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CD im Player:
– keine

Bücher neben dem Sessel:
– the complete poems of emily dickinson

Matthäus 16,13-17 Als Jesus in das Gebiet von Cäsarea Philippi kam, fragte er seine Jünger: Für wen halten die Leute den Menschensohn?
14 Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten.
15 Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich?
16 sie antworteten wie aus einem Munde: „Meister, du bist die eschatologische Manifestation des Ursprungs unseres Seins und die ultimative Erfüllung aller unserer zwischenmenschlicher Bedürfnisse.“
17 und Jesus antwortete ihnen und sprach: „Wie bitte?“

Ich habe diese Passage die Tage bei Brennan Manning gelesen und musste herzlich lachen. Ich habe sie hier zwar nur sinngemäss wiedergegeben, aber im Grunde ist sie nur wenig geändert. Beim lesen musste ich an eine Unterhaltung mit Paulus aus Duisburg denken (oder war es ein Gebet? Ich weiss nicht mehr), in der es darum ging, ob wir noch die gleiche Sprache sprechen wie die Ungläubigen.
Darüber wird ja viel geredet und ich will sie einfach mal mit einem kräftigen „selbstverständlich“ beantworten. Natürlich ist kanaanäisch als Sauerteig, der die ganze Sprache durchdringt, zu fürchten. Aber so lange wir noch Zeitungen lesen, uns von Kinofilmen inspirieren lassen, normale Bücher lesen usw. werden wir wohl auch noch normal reden. Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten, frommes Ghetto verdirbt normale Sprache; also Vorsicht! bei zu wenig Welt…

In diesem Sinne: jumpdafuckupmotherfucker!

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CD im Player:
– dead kennedys: give me convenience or give me death

Bücher neben dem Sessel:
brennan manning: der blick, der dich heilt (gleich zuende)
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[neu veröffentlicht am 11.09.06 auf Hasos Blog]

daggi ist wieder da. mit neuer adresse:
http://www.daggionline.blogspot.com/
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CD im Player:
– Slipknot: Iowa

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