ein thema beschäftigt mich bei allem exegetischen arbeiten immer wieder: kann ich wissen, was jemand früher gemeint hat? ist es überhaupt möglich, verbindliche aussagen über die vergangenheit zu machen? josha schreibt über die griechische bedeutung der seele:“http://isenhut.blogspot.com/2005/11/ber-die-seele-des-menschen.html“:http://isenhut.blogspot.com/2005/11/ber-die-seele-des-menschen.html. meiner ansicht nach hat er recht – und doch ist es interpretationssache.
in meiner eigenen vergangenheit gibt es dinge, an die ich mich nicht erinnern kann. wenn ich mit anderen rede, gibt es manchmal dinge, an die ich mich erinnern kann, die aber nicht stattgefunden haben. seltsam ist, dass die retrospektive ereignisse völlig verzerrt: manches wird schön gefärbt, anderes dramatisiert, aber alles erscheint als „erinnerung“. das merkt man oft am deutlichsten daran, dass alle ehemaligen raucher „extrem viel geraucht haben“, oder ehemalige säufer dazu neigen, ihr leben drastisch zu übertreiben. das nicht mal mit absicht, sie glauben, dass es so war, auch wenn es anders war. eine mitlaufende kamera würde da einige brüche zwischen realität und erinnerung zeigen.
humberto maturana:“(humberto maturana: was ist erkennen?)“: schreibt, dass wir nicht zwischen der wirklichkeit und einer sinnestäuschung unterscheiden können. eine starke these und doch hat er recht. dass diese aussage stimmt weiss jeder, der sich mal vor einem schatten erschrocken hat, den er für einen menschen gehalten hat. genauso können wir nicht zwischen der wirklich erlebten und der im nachhinein retuschierten wirklichkeit unterscheiden.
für die geschichtsschreibung bedeutet dies, dass ihre quellen unzuverlässig sind. besonders die quellen aus der zeit vor der fotografie sind alle aus dem gedächtnis und nihct exakt. auch die aus der zeit nach der fotografie sind nicht immer genau, weil über viele details keine fotos existieren.
sicher haben wir eine vergangenheit, aber wir können unmöglich sagen, wie sie genau war. wenn das schon bei der eigenen so schwer ist, wie schwer ist es dann erst bei unserer kollektiven, der geschichte? ich kann mir kaum mehr vorstellen, wie ich vor fünfzehn jahren empfunden und gedacht habe als ich „nieder mit dem bullenstaat“ für eine differenzierte politische aussage hielt. noch weniger kann ich mich ins dritte reich hineinversetzen; alle bücher und filme darüber bringen nur ausschnitte, die massloss vergrössert sind und so den blick auf das ganze verstellen. ich kann mir nicht vorstellen, wie es war, 1940 zu leben und das ist gerade mal 65 jahre her. wieviel weniger kann ich mich in das erste jahrhundert versetzen und sagen, was paulus und jesus gemeint haben, als sie dieses oder jenes gesagt haben?:“(dass ich trotzdem hermeneutisch arbeite hat damit zu tun, dass exegese imho nicht alles ist und ich an die auslegung des heiligen geistes glaube. dennoch halte ich eine gute exegese für unerlässlich)“:
das problem wird durch einige implizite grundannahmen verschärft, die in jeder – nicht nur biblischer – exegese allgegenwärtig sind. wenn wir die bedeutung, die ein wort vor 2000 jahren hatte, recherchieren, gehen wir davon aus, dass der schreiber 1. jedes wort bewusst und 2. die bedeutung repräsentativ benutzt.
wer sagt denn, dass homer immer das richtige wort verwendet hat? wir können kaum davon ausgehen, dass er genauso über jedem seiner worte gebrütet hat wie die heutigen philologen. er wird manchmal schnell geschrieben und sprache völlig unbewusst verwendet haben. ich denke nicht jedes mal darüber nach, ob und warum ich „laufen“ schreibe oder „gehen“.
schlimmerweise gibt es dann ja auch noch künstlerische freiheiten. wie z.b. die humoristische in heinz erhardts willhelm tell: „der könig geriet in rage, weil traf des tells etage“. erhardts eigene anmerkung: „tatsächlich sagte der könig natürlich „geschoss“, aber das reimt sich nun mal nicht auf „rage“.“
und selbst wenn einer über jedes wort intensiv nachdenkt. benutzt er es dann so, wie alle? ich denke nicht, denn jeder einigermassen produktive schreiber, redner oder sonstwie mit sprache umgehende, wirkt sprachschaffend. jeder philosoph belegt kernworte wie „sinn“, „welt“, „leben“ etc. unterschiedlich. ähnliches gilt für manche literaturschaffende. und erst die humoristen! kleines beispiel, wieder von heinz erhardt, der sehr gute wortspiele hatte:
Als ich das Gaslicht der Welt erblickte, war ich noch verhältnismäßig jung. Meine Eltern waren zwei Stück, und mein Vater war sehr reich: Er hatte zwei Villen, einen guten und einen bösen. Und eines Tages – es war sehr kalt, und ich fror vor mich hin, denn nicht nur meine Mutter, sondern auch der Ofen war ausgegangen – teilte sich plötzlich die Wand, und eine wunderschöne Fee erschien! Sie hatte ein faltenreiches Gewand und ein ebensolches Gesicht. Sie schritt auf meine Lagerstatt zu und sprach also: „Na, mein Junge, was willst Du denn einmal werden?“ Ich antwortete – im Hinblick auf meine ziemlich feuchten Windeln: „Ach, gute Tante, vor allem möchte ich gerne ‚dichter‘ werden!“ Das hat die Fee mißverstanden…
was selbst feen missverstehen, können auch philologen und exegeten falsch verstehen. der sinn der wörter ist eben schwer zu definieren.
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