16. August 2006 14

Induktion

Die Geschichte der Wissenschaft ist eine Geschichte der Irrtümer. Fast jeder große Name, den wir kennen mit einem Irrtum verknüpft. Der Weg zu dem Wissen, das wir jetzt haben ist gepflastert mit den Missverständnissen vergangener Tage und vermutlich wird das, was wir heute an Wissen so hoch halten, einmal nur noch einen Eintrag in den Geschichtsbüchern wert sein über den man den Kopf schüttelt.
Aber es gibt Lehren, die man aus den Fehlern der Vergangenheit ziehen kann. Nicht nur das Wissen selbst hat sich seit der grauen Vorzeit verändert, auch die Methoden zu verlässlichem Wissen zu gelangen haben sich weiterentwickelt.

Eine der wichtigsten Lehren die ich aus den gelegentlichen populärwissenschaftlichen Büchern ziehe, die ich lese ist – mal wieder – eine erkenntnistheoretische. Viele Fehler sind daraus entstanden, dass jemand seine Theorie in der Natur erweisen wollte und nicht die Natur sprechen lassen wollte. Natürlich ist das ein Fehler, der immer uneingestanden mit läuft. Niemand begeht ihn absichtlich, dennoch ist keiner vor ihm gefeit. Man kann immer alles beweisen, was man will. Letzten Endes bestimmt die Theorie öfter den Ausgang der Experimente die sie belegen sollen als dass die Experimente eine Theorie hervorbringen. Es ist wie in dem Witz mit dem Mathematiker der beweisen will, dass alle ungeraden Zahlen Primzahlen sind: er geht los und misst. 1 – Primzahl, 3 – Primzahl, 5 – Primzahl, 7 – Primzahl, 9 – Messfehler. Ergebnis: alle ungeraden Zahlen sind Primzahlen.

Ebenso läuft es nicht selten in der Theologie. Auch bei uns bestimmt die Theorie mit der wir Bibellesen das, was wir in der Bibel entdecken. Deshalb lautet meine Definition von Theologie nach wie vor: „Theologie ist eine Perspektive auf Gottes Wort“. Wer mit einer starken Perspektive an die Bibel herangeht der steht in der Gefahr mehr in sie hineinzulesen als aus ihr herauszulesen. Manche nennen das Eisegese, als Gegenstück zur Exegese, andere reden von induktivem Bibelstudium.
Ich bin an dem Punkt zunehmend misstrauisch, zumal sich kaum ein christlicher Autor der Mühe unterzieht seine geistigen Wurzeln offenzulegen. Mit einem gesunden Misstrauen ausgestattet muss man nicht lange nach Hinweisen auf mögliche Urteilsverzerrungen suchen, die Hinweise springen einen förmlich an: schluderige Exegesen, Bibelstellensalat (aus allen Teilen der Schrift aus dem Zusammenhang gerissen), verdrehte Stellen, udgl. mehr.
Viele der Autoren die am überzeugendsten über ein Thema schreiben machen sich auf dem Gebiet der intellektuellen Redlichkeit der meisten Sünden schuldig. Ihre Induktion scheint auf fast jeder Seite durch. Das ist schade, weil sie oft in der Sache Recht haben, aber ihre Hinführung und Beweisführung schlimm ist. Mir ist das jüngst bei Kenyon aufgefallen, den ich wirklich schätze und der wie kaum ein zweiter in großer Klarheit über den Geist schreiben kann. Dennoch entlarvt er seine Induktion durch jeden Fehler, den man im Umgang mit Texten machen kann: dauernd verbindet er völlig gegensätzliche Stellen zu neuen Komplexen, dichtet Stellen Bedeutungen an, die sie nicht haben und zitiert aus dem Zusammenhang.

Es ist eine tragische Sache, dass es in der christlichen Literatur fast nur Geistliche und Wissenschaftler gibt, aber kaum jemanden der das Bedüfrnis des Denkens ebenso befriedigt wie das des Geistes. Besonders in der Glaubensbewegung ist die Stellung des Theologen scheinbar noch vakant…

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12 Kommentare

  1. Ein starker und wichtiger Post. Ich würde gerne mal eine empirische Studie über den Einfluss der eigenen Biographie auf das Schriftverständnis machen, ich glaube das würde vieles erklären.

  2. von dieser perspektive aus hast du total recht. solange wir das subjekt sind und die bibel das objekt, sind wir auf schwankendem boden.

    meine zuversicht im umgang mit der schrift beruht auf der komplementären (und in meinen augen wichtigeren) perspektive: das wort wird durch den geist immer wieder zum subjekt, dessen objekt wir werden. sonst wären wir im dickicht von subjektivität verloren. (ich verlasse mich mehr auf die fähigkeit des wortes, mich zu unterweisen, als auf meine fähigkeit, das wort richtig deuten zu können.)

    das erklärt auch, warum selbst schlechte exegesen frucht des geistes hervorbringen können. es entbindet uns aber nicht der aufgabe, die du aufgezeigt hast, und der buße von den sünden gegen die intellektuelle redlichkeit.

  3. meine rede, storch!

  4. Heutzutage haben viele vergessen, dass Gott in der Bibel durch Menschen in menschlichen Worten zu uns redet. Die Bibel wird oft als vollkommenes abstraktes Konstrukt verstanden und damit aus ihrem Kontext genommen. Ein Buch ist erstmal konservierte menschliche Rede. Wenn wir es als solches ernst nehmen, können wir deutlicher sehen, wie Gott durch diese menschliche Rede zu uns redet. Aus meinem neuen Post:

    „Ich merke ja auch, dass Gott oft durch andere Menschen zu mir redet. Und zwar meistens durch die, die sich bewusst sind, wie wenig perfekt sie sind. Durch eine schwache menschliche Hülle höre ich Gott lauter als durch einen aalglatten frommen Perfektionisten. Und genauso empfinde ich das bei der Bibel.
    Die Schwachheit der Autoren sowie der Überlieferer der Bibel und der in ihr beschriebenen Glaubenshelden weist mich umso mehr auf die Stimme Gottes hin, die durch diese Schwachheit wunderbar deutlich hervortritt. Wenn ich den Zeitpunkt suche, an dem Gott am lautesten geredet hat, dann lande ich beim Kreuz auf Golgatha. Am deutlichsten hat Gott durch den Mann in unsere Weltgeschichte hineingeredet, den alle menschliche Kraft verlassen hat.“

  5. Danke Tino!Bislang der schönste post in diesem Betrag.
    Haso,Zitat: …(ich verlasse mich mehr auf die Fähigkeit des Wortes,mich zu unterweisen,als auf meine Fähigkeit,das Wort richtig deuten zu können).
    Finde ich sau wichtig,genau.
    Storch:Zitat:Mit einem gesunden Mißtrauen ausgestattet:(…)verdrehte Stellen udgl.mehr.[da fällt mir doch was zu ein].
    Auf dem laud-music-seminar in Calden-Meimbressen bei Kassel in diesem Jahr,hörte ich einen interessanten Satz.
    Dieser heißt:
    Nicht am Text zu feilschen !
    Der Text bleibt in der Urfassung !
    Was Tine,Becci Backhaus,Frank,Gerhard Buchner usw
    an diesem WE glaube ich rüberbrachten,
    ist die Liebe zur Musik.
    Meine Induktion „hineinführen“ besteht da eher in den kleinen Dingen.
    Im Handwerk und der Kunst.
    Ich könnte es auch auf die Spitze treiben.
    In der liebe zur Musik.
    In der liebe zu VOLXLIEDERN.

    Danke für Vision und Inspiration….

    Björn,wwps2

  6. haso, da lieferst du mir eine detail, das ich nicht mehr auf dem schirm hatte, das aber wesentlich für mich ist. danke!
    das ist die seite, die mir in meinem „subjektivitätslobpreis“ (bernhard) fehlt. so langsam wird mein bild vollständiger – bloggen bildet! nochmal danke, bin gerade sehr begeistert.

    toby, das würde mich auch interessieren. ich lese immer gerne biographien von leuten, deren bücher mein denken beeinflussen weil ich dann das gefühl habe, ihre gedanken besser zu verstehen. tatsächlich ist aber der biographische standpunkt kaum beachtet. das sollte sich ändern, denn erst wenn man weiss WER etwas schreibt und WARUM erschliesst sich das WAS richtig.

  7. Hi Storch,

    zitiere hier zum Thema „Aufgabe der Theologie“ mal aus einer Mail, die ich gestern an nen Kumpel geschrieben habe:

    „In letzter Zeit beschäftige ich mich mit der Frage nach „Intellekt und Theologie“. Ich denke, Theologie hat auch intellektuelle Aspekte. Intellektuelle Theologen stehen aber meines Erachtens in der „Pflicht“ die Dinge so darzustellen, dass der Normalo sie verstehen und weiterdenken kann. Es gibt vielleicht Ausnahmen (mir nicht bekannt), aber ein theologischer Elfenbeinturm fördert die Trägheit und wird zu dem, was er beseitigen wollte, nämlich Meinungslieferant für Leute, die sagen „Das sagt doch auch dieser oder jener!“

    Zitat von Storch: „Ich bin an dem Punkt zunehmend misstrauisch, zumal sich kaum ein christlicher Autor der Mühe unterzieht seine geistigen Wurzeln offenzulegen“
    Ja man ja, preach it brother! Ich will demnächst ma in den Bereich christliche Kolumnen (war das jetzt ein Foul das hier zu sagen? Ich weiß es echt net, bitte um Rücksendung falls Brett zu groß!) einsteigen. Ich glaube dabei an zwei Sachen: 1. Zerlege alles. Und jeden. Immer. 2. Das Leben ist geheimnisvoll gut. Das führt mich zum Konzept der Metakritik: 1. Kritisiere alles und biete Alternativen 2. Gehe keine Bündnisse mit anderen ein, nur weil du ihre „Feinde“ teilst! 3. Kritisiere noch mehr die, die die alles kritisieren und Alternativen zu bieten versuchen. 4. Kritisiere am allermeisten dich selbst!

  8. fang gleich ma mit Metakritik an:
    Es müsste heißen „1. Kritisiere alles und versuche (!) Alternativen zu bieten.“
    Nein, stimmt nicht, es müsste nicht so heißen, es müsste so sein.
    So, ich hoffe ich lass ich es mal eine Weile bleiben. Bin schon wieder voll drauf….auf storch.de mein ich, is klar

    andy

  9. ich hoffe doch, dass theologie auch intellektuelle aspekte bedient. sonst hätte ich wohl die arschkarte gezogen und könnte in rente gehen.
    allerdings bin ich nicht deiner meinung was die kritik angeht (wieso überhaupt „metakritik“? wofür steht hier das „meta“?). ich sehe es eher als „prüfet alles und behaltet das gute“ – es geht also darum zu behalten, nicht zu kritiseren. kritik ist nur das sieb, ein arbeitsmittel, aber nicht die sache selbst.

  10. von Meta-Ebene. Beispiele: Lernen lernen, Witze über Witze machen, oder eben „Das (eigene und sonstiges) Kritisieren kritisieren“
    Du hast absolut recht, es geht um das Behalten! Das Kritisieren hilft auch hier, denn ich will ja nichts ungeprüft behalten (Stichwort Descartes). So gesehen ist Kritik positiv (Sieb eben). Das Problem ist, dass jeder auf einer Seite vom Pferd zu fallen droht. Heutzutage (Spezialisierung, Klassenkampf, Politik….) fällt die Gesellschaft eher so vom Pferd, dass jeder den anderen kritisiert und man glaubt, da kommt automatisch was drum rum. Bei diesem These-Antithes-Kampf wird vergessen: Wenn jeder These und Antithese in sich kämpfen lassen würde, könnten wir zum eigentlichen Ziel kommen: Synthese, Einigung eben. (Politisch hat das natürlich große Gefahren)
    So gesehen ist Selbst- und Weltkritik elementar wichtig, eine positive Sache, die halt durch Missbrauch in Verruf geraten ist, wenn z.B. Leute nur andere kritisieren

    andy

  11. gut, dann meinen wir dasselbe. ich habe hier viel über „metatheologie“ geschrieben, was bedeutet, sich selber beim theologisieren zu beobachten. dabei finden wir heraus, wieso wir die bibel so verstehen wie wir sie eben verstehen. ein spannendes thema.
    deine metakritik ist dann ja in derselben richtung verstehen: ordentlich (=konstruktiv) kritiseren lernen. bin gespannt, was dabei so alles rauskommt.

  12. fällt mir ein Spruch von meinem Praktikumschef ein: „Ob du glaubst du hast erfolg oder ob du glaubst du hast nicht erfolg – du hast immer recht!“
    In diesem sinne sag ich ma: „Bei mir kommt immer was hinten raus“

2 Pingbacks

  1. […] Wissen ist schon etwas schwieriger. Im engeren Sinne umfasst es aber nichts, was man erzählt bekommt oder liest und aufgrund der Autorität des Erzählers bzw. Verfassers für wahr hält. Wissen muss entweder im obigen Sinne bewiesen sein oder aber falsifizierbar sein. Falsifizierbar heißt hier, dass die betrachtete Aussage eine Möglichkeit anbietet, sie zu wiederlegen. Auf diese Weise kann ein Wissenssatz zu beliebigen Zeitpunkten und von beliebigen Personen (insbesonere natürlich Kritikern) überprüft und möglicherweise für ungültig erklärt werden. […]

  2. […] in einem der posts über metatheologie kam ein kleines gespräch mit [depone] auf, darüber, was theologie ist, bzw. von welcher theologiedefinition ich ausgehe. ich habe zuletzt mit einer an niklas luhmann[1] angelehnten definition geantwortet: “theologie ist die reflexionstheorie des glaubens”. ich bin immer noch sehr zufrieden mit dieser weiten definition. heute habe ich an einem seminar geschrieben und schrieb einen satz, über den ich später beim drüberlesen gestolpert bin: “Theologie bietet eine Perspektive auf das Wort Gottes.” […]

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