09. Mai 2006 10

Theorie und Praxis

Ich stehe immer wieder vor dem Problem, dass ich einerseits eine grosse Theorieneigung in mir finde, andererseits der Praxis verhaftet bin. Mal fühlt es sich an, als würde die Praxis des Gemeindebaus mich in der Theorieentwicklung, dem lesen, beten und schreiben hindern; dann wieder bekommt die praktische Seite eine so hohe Priorität, dass die kontemplative Seite wie störend wirkt. Ich schätze, das ist ein systematisches Problem bei Leuten, die eine philosophische Seite haben, aber auch die Umsetzung des Gedankens sehen wollen.

Jedenfalls habe ich bei Fichte eine interessante Notiz dazu gefunden. Ich habe in einem kleinen Antiquariat in Prag eine nette Textsammlung von 1935 zu Fichte erstanden. Gruselig, dass das Verlagslogo ein Hakenkreuz darstellt aus dessen Mitte ide Flamme der Erkenntnis(?) des Lebens(?) hervorgeht. Noch gruseliger, dass das Vorwort ausgerechnet Fichte als einen Hauptvertreter des deutschen Idealismus für die Ideenschmiede des NS-Regimes rekrutieren will. Wie auch immer, er schreibt im O-Ton:

Nichts hat unbedingten Wert und Bedeutung als das Leben; alles ürbige Denken, Dichten, Wissen hat nur Wert, insofern es auf irgendeine Weise sich auf das Lebendige bezieht, von ihm ausgeht und dasselbe zurückzulaufen beabsichtigt. Dies ist die Tendenz meiner Philospophie… Ich will nicht bloss denken, ich will handeln.

Amen. Fast nirgendwo in der deutschen Philosophiegeschichte zeigt sich dieser Kontrast zwischen denken und handeln so stark wie in der Beziehung zwischen Immanuel Kant als dem Vordenker und den Idealisten, die versucht haben (meist gegen den Geist der Revolution, die aus Frankreich herüberwehte), den Gedanken in Programm zu fassen.

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9 Kommentare

  1. Wahrlich ein schönes Zitat. Könntest du mir die genauen Quellenangaben geben? Würde mich für einen Mpment glücklich machen.

  2. depone hat kürzlich, angeregt durch alan hirsch, die interessante frage aufgeworfen, ob erneuerung mit dem denken oder mit dem handeln beginnt. ich neige immer mehr der auffassung zu, das handeln komme zuerst. insofern gefällt mir das heutige fichte-zitat. das leben kommt zuerst, das wissen geht sekundär daraus hervor und muss zurück ins leben führen.

    zwei beispiele, die das unterstreichen. die erste gemeinde war – trotz missionsbefehl – in judaistischen paradigmen gefangen. sie hätte sich mit theorie nie daraus befreit. im haus des cornelius wurde petrus sozusagen wider seinen willen ins wasser des neuen handelns geworfen (apg 10). die begründende theorie folgte sekundär (apg 15; paulus).

    oder aktuell: der amerikanische „rassist“ brett haines (spiegel vom 15.4.2006, Seite 63) stand wegen beleidigung eines schwarzen taxifahrers vor gericht. der richter „verurteilte“ ihn dazu, an sechs sonntagen den gottesdienst einer afroamerikanischen gemeinde zu besuchen (also etwas zu tun). das ergebnis: brett haines wurde „erleuchtet“. er uns seine familie sind jetzt die einzigen weißen in dieser gemeinde. (ich bezweifle, ob sozialkundlicher nachhilfeunterricht diese veränderung bewirkt hätte.)

    wenn theorien die christliche szene verändern würden, wären wir schon lange verändert – angesichts der bücher- und konferenzflut im lande. tatsächliche veränderungen geschehen, wenn leute – auf gottes reden hin oder weil sie die bestehenden verhältnisse unerträglich finden – etwas tun, was sie noch nie getan haben. die erkenntnis wird folgen.

    ein kleiner korrekturvorschlag zu deinem post: das beten gehört nicht (mit dem lesen und schreiben) zur theorieentwicklung, sondern zur praxis.

  3. Ich denke der Gemeindeleiter und der Visionär sind nur schwierig in einer Person zu vereinen.

  4. für toby, um dich glücklich zu machen: Unruh, Friedrich Franz von (1935): Fichte. eine Textsammlung. Stuttgart. Karl Gutbrod (Reihe Gestalten und Urkunden deutschen Glaubens, Teil 1) Seite 11
    Leider gibt er in der einleitung keine fundstellen für seine zitate und im textteil habe ich es bislang noch nicht gefunden.

    @ haso: das sehe ich anders. ich glaube, dass es im denken anfängt und sich dann das denken im handeln bahn bricht. hier nehme ich mal als bild kant und die idealisten. fichte hat nur umgesetzt, was kant gedacht hat. kant selber warja nun theoretiker par excellence, aber seine gedanken waren so inspirierend für leute wie fichte, hegel, schelling, hölderlin und wie sie alle hiessen, dass sie programme zu seiner umsetzung entworfen haben.
    aber ohne kant wäre der idealismus nicht passiert. die praktischste frucht daraus war (wenn auch etwas indirekt über den älteren hegel) marx und der kommunismus, ein beispiel dafür, wie eine gute idee schlecht umgesetzt werden kann. das spricht natürlich nicht per se gegen das handeln… was aber stimmt, ist dass veränderung im denken beginnt. soziale änderung beginnt dann aber durch das handeln.

    so sehe ich auch den fall „deines“ nazis: es begann nicht mit einer handlung, sondern die veränderten umstände (besuch eines schwarzen gottesdienstes) haben die möglichkeit zur veränderung des denkens gegeben. diese möglichkeit hat er ergriffen und durch die denkänderung kam das weitere handeln (in der gemeinde bleiben). ebenso ist es ja auch geistlich: erst die metanoia und nach vollzogenem umdenken das umhandeln.

    auch nach einigem nachdenken verorte ich das beten weiter in der theorieentwicklung. beten verändert meiner ansicht nach erst einmal mich, es greift nicht in erster linie in das geschehen um mich herum ein sondern hilft mir meine möglichkeiten und mein erbe zu erkennen. praktisch ist nur der geistliche kampf.
    allerdings bin ich auch hierin nicht zu dogmatisch. ich habe meine position zu gebet schon öfter gewechselt und bin auch jetzt skeptisch ob diese ansicht meine endgültige ist. ist also sicher diskutierbar…

  5. Danke. Bin glücklich. 🙂

  6. freut mich. ich bin´s auch: habe mir gerade die fichte-gesamtausgabe von 1912 gekauft. yeah, sechs bände, freu mich drauf. in der nächsten zeit ist hier einiges an fichtezitaten zu erwarten!

  7. noch einmal zu haso: bei josha geht es gerade um paradigmenwechsel. ich finde, das passt gut in das thema dieser diskussion: bevor das handeln (einer gesellschaft) sich ändert muss erst einmal ihr denken geändert werden. nun kann man allerdings einen paradigmenwechsel herbeiführen (oder auch nicht, das wird ja immer diskutiert); „herbeiführen“ ist wiederum ein wort, dass handlung nahelegt… aaaarghhh!

  8. ich werd mich die tage noch mal ausführlicher melden. bin gerade auf dienstreise und hab erst ab wochenende muße.

  9. die muße hat sich jetzt eingestellt. ab morgen werde ich einige tage zum thema posten. auf hasos tafel sehen wir uns wieder.

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  1. […] Veränderung mit dem Denken oder mit dem Handeln? Diese Frage hat einige Tage später auch auf Storchs Blog beschäftigt. Die Diskussion ist nicht abgeschlossen. Ich werde in den nächsten Tagen schreiben, […]

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