Im Zuge der Aufklärung kam es zu einer Veränderung der Wahrnehmung von Gesellschaft an sich. Die antike Vorstellung, die Aristoteles (384-322v.Chr.) prägte, unterschied sich deutlich von der modernen Gesellschaft in der wir seit Immanuel Kant (1724-1804) leben. Harvard-Professor Michael Sandel bemerkt dazu:
Aristoteles lehrt, dass Gerechtigkeit bedeutet, Menschen das zu geben was sie verdienen. Um bestimmen zu können wer was verdient müssen wir bestimmen welche Tugenden Ehre und Belohnung verdienen. Aristoteles meint, dass wir nicht herausfinden können was eine gerechte Verfassung ist ohne zuerst über die beste Art zu leben nachzudenken. Für ihn kann Recht Fragen des guten Lebens nicht indifferent gegenüber stehen.
Im Gegensatz dazu haben moderne politische Philosophen – von Immanuel Kant im neunzehnten Jahrhundert bis John Rawls im zwanzigsten – die Ansicht vertreten, dass die Prinzipien unseres Rechtes nicht auf einer bestimmten Ansicht von Tugend oder einer bestimmten Art des Lebens beruhen sollten. Stattdessen erkennt eine gerechte Gesellschaft das Recht eines jeden Menschen auf die Freiheit an seinen eigenen Entwurf des guten Lebens zu wählen.
Man könnte also sagen, dass antike Rechtstheorien mit Tugend beginnen, während moderne mit Freiheit beginnen.1
Hier sehen wir ein großes Problem unserer politischen Diskussionen. Wenn Christen mit der Bibel argumentieren, dass sie einen Staat haben wollen der von biblischen Werten geprägt ist, argumentieren sie von einem antiken Paradigma aus, das heutigen westlichen Staatsentwürfen nicht mehr zugrunde liegt. So klingen wir oft repressiv, rückständig und allgemein wenig aktuell. Natürlich kann man darüber streiten ob Aristoteles oder Kant näher an der Wahrheit war, aber das ist nicht zielführend. Der Ansatz sollte eher sein, dass wir unsere Gesellschaft zunächst einmal nur prägen und nicht grundlegend verändern wollen. Wir sind alle in einem modernen Staat aufgewachsen und wollen die Freiheiten die er bietet nicht mehr missen. Ob ein Staat im Sinne des Aristoteles als gut oder schlecht empfunden wird entscheidet letztlich die Ideologie der Gesetzgeber. In den meisten ideologischen Staaten werden die meisten Menschen nicht leben wollen. Freiheit ist ein hohes Gut, das man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollte.
In letzter Zeit geraten Fragen des Paradigmas auf dem eine Gesellschaft aufgebaut ist, durch die Beschäftigung mit dem Islam wieder stärker zum Tragen. Viele sehen in der Scharia eine Gefährdung des freien Lebens im Westen. Ein Land das ganz auf christliche Werte und Moralvorstellungen aufgebaut ist würde sicherlich auf ebensolchen Widerstand stoßen.
Wir müssen und bewusst sein, dass wir keinen Gottesstaat aufbauen wollen und dass Prägung immer im Rahmen des freiheitlichen Paradigmas stattfinden muss auf dem westliche Gesellschaften aufgebaut sind.
- Sandel, Justice (2010), Location 148. Übersetzung: Storch [↩]
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