23. April 2006 1

Tillich und Storch

Ich komm ja nicht an Antiquariaten vorbei ohne reinzugehen und was zu kaufen. So auch diesmal, ausgerechnet in Wetter an der Ruhr, wo ein Antiquariat eröffnet hat. Ich habe mir für 2,– ein kleines Bändchen Paul Tillich gekauft, danke für den Tipp Josha!

Jedenfalls lese ich da, noch auf dem Rückweg nach Hause, folgende Sätze, die mir wie aus dem Herzen sprechen. Könnte von mir sein, ist definitiv wie ich empfinde, als hätte er meine Biographie geschrieben statt seiner. 🙂

Weitaus am Wichtigsten aber war die Tatsache, dass ich seit meinem achten Lebensjahr regelmässig einige Wochen, später oft mehrere Monate, am Meer verlebte. Das Erlebnis der Grenze von Unendlichem und Endlichem, wie es am Meeresufer gegeben ist, entsprach meiner Tendenz zur Grenze und gab meiner Phantasie ein Symbol, aus dem das Gefühl Substanz und das Denken Produktivität schöpfen konnte. Die Ausgestaltung der Lehre von der menschlichen Grenzsituation in Religiöse Verwirklichung und mehr anthropologisch in den Taylor-Vorlesungen an der Yale-Universität wäre ohne jenes landschaftliche Urerlebnis vielleicht nicht so geworden, wie sie geworden ist. Doch liegt noch ein zweites Element in der Anschauung des Meeres: das Dynamische, die Aggression gegen das Land in seiner ruhigen Endlichkeit, das Ekstatische grosser Stürme und Wellen. So ist die Lehre von der „dynamischen Masse“ in meiner Schrift Masse und Geist unmittelbar unter dem Eindruck des bewegten Meeres konzipiert. Und der Lehre von dem Absoluten als Grund und Abgrund zugleich, von der dynamischen Wahrheit, und von dem Religiösen als Durchbruch des Ewigen in die „in sich ruhende Endlichkeit“ der Zeit hat das Meer das Phantasieelement geliefert, das zu jedem lebendigen Gedanken gehört. Nietzsche hat gesagt, dass kein Gedanke wahr sein könne, der nicht im Freien gedacht sei. Gehorsam diesem Worte sind viele meiner Gedanken im Freien konzipiert, und sogar die Ausarbeitung eines grossen Teils meiner Schriften ist unter Bäumen oder am Meer geschehen. Der regelmässige Rhytmus von Stadt- und Landaufenthalten gehörte und gehört zu dem wenigen Unantastabaren meines Lebens.

(Tillich, Paul (1962): Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk von Paul Tillich. Stuttgart. evangelisches Verlagswerk Stuttgart.)

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Ein Pingback

  1. […] über sehr kluge Menschen. Er hat schon über Nietzsche gebloggt, über Descartes, Fichte, Luhmann, Tillich, Bultmann, Pascal, über Sherlock Holmes und über Haso. Und worüber blogge ich? Über Läuse, […]

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