3. Hermeneutik und Exegese
Im allgemeinen Sprachgebrauch verschwimmt der Unterschied zwischen Hermeneutik und Exegese immer mehr. Da aber beide unterschiedliche und sehr wichtige Herangehensweisen an die Bibel darstellen, möchte ich kurz erläutern, was ich mit beiden meine.
Dass die Bibel ausgelegt werden muss, ergibt sich schon daraus, dass sie ein sehr altes Buch ist. Die jüngsten Teile des Neuen Testamentes sind etwa 1900 Jahre alt, die ältesten Teile des Alten Testaments etwa 2800 Jahre alt (siehe Entwicklung der Bibel – zeitlicher Ablauf Seite 10).
Das ergibt eine enorme historische Distanz. Je weiter weg etwas liegt, umso schlechter kann man es sich vorstellen. Es ist schon ziemlich schwierig nachzuvollziehen, wie sich die eigenen Grosseltern im Dritten Reich gefühlt haben. Um so schwerer ist es zu verstehen, was mit einem Text gemeint ist, der vor mindestens zwei Jahrtausenden in einem uns nahezu unbekannten Kulturkreis in einer Sprache geschrieben wurde, die wir nicht sprechen.
Hier kommt die Exegese ins Spiel. Sie versucht herauszufinden, was der Text ursprünglich gemeint hat. Das ist gar nicht so einfach und auf gar keinen Fall 100%ig exakt. Die Exegese erhebt für sich den Anspruch, eine Wissenschaft zu sein. Es geht darum, die Originalsprachen immer besser zu verstehen und den kulturellen Hintergrund eines Textes besser nachvollziehen zu können.
Obwohl das schwierig ist, steckt eigentlich in jedem Bibelleser auch ein Exeget. Wir alle fragen uns, was mit dem Gleichnis der zehn Jungfrauen (Matthäus 25) gemeint war. Was wollte Jesus damit sagen? Manchmal erwischen wir uns dabei, wie wir anderen exegetische Informationen weitergeben: „Damals war es so, dass….und deshalb heißt der Text….“. Mit Exegese kommt man nicht an Grenzen. Es kommen immer wieder neue Fakten dazu und erweitern unser Bild vom Leben in biblischen Zeiten, und man lernt buchstäblich nicht aus. Viele Details verändern unsere Sicht der Bibel mehr und mehr.

Beispiel: das Nadelöhr

Matthäus 19,24 Und wiederum sage ich euch, ein Kamel kann leichter durch ein Nadelöhr eingehen, als ein Reicher in das Reich Gottes!
25 Als die Jünger das hörten, entsetzten sie sich sehr und sprachen: Wer kann denn gerettet werden?
26 Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: Bei den Menschen ist das unmöglich; aber bei Gott ist alles möglich.

Irgendwann hatte ich einmal eine Auslegung zu dem Vers gehört, die besagte, es hätte ihn Jerusalem ein Tor gegeben, das „Nadelöhr“ genannt wurde, weil es so niedrig war, dass ein Kamel nur auf seinen Knien hindurch konnte. Klar, dass ich das jedem erzählte, den ich kannte, denn die Auslegung gefiel mir gut: in Gottes Reich kommt man nur auf den Knien. Den Stolzen bleibt der Himmel verschlossen, aber den Demütigen öffnet Gott sein Reich.
Später lernte ich, dass es kein Nadelöhrtor gegeben hat, zu keiner Zeit. Der früheste bekannte Beleg dieser Auslegungsvariante stammt aus dem 11.Jahrhundert. Jesus meinte etwas anderes, nämlich dass es für Menschen unmöglich ist, in den Himmel zu kommen, Gott aber das Wunder vollbringen kann, dass es doch geht. Die Jünger hatten das auch verstanden (Vers 25). Ich jetzt auch.
Aber Exegese ist nicht die einzige Aufgabe. Das heißt, manchmal doch. Es gibt leider Bibelforscher, die sich nur für die geschichtliche Seite interessieren und den Anspruch der Bibel als Wort Gottes nicht anerkennen. Für sie ist hier Schluss. Aber für uns als bibelgläubige Christen fängt der Spaß hier erst an.
Viel interessanter als zu wissen, was der Text früher einmal bedeutet hat, ist doch, was er heute für uns bedeutet. Die Bibel ist eben nicht nur eine historische Quelle, sondern Gottes inspiriertes Wort und für uns der Maßstab in Glaubensdingen. Die Hermeneutik stellt jetzt die Frage: „Was will Gott mir hiermit sagen?“
Diese Frage geht eindeutig über den ursprünglichen Sinn der Texte hinaus. Die Bibel sagt mir als Menschen des 21.Jahrhunderts etwas vollkommen anderes als den Menschen damals.
Darum geht es also in der Hermeneutik: mit Hilfe des Heiligen Geistes den uralten Text auf das eigene Leben übertragen. Die Exegese schützt uns dabei vor Willkür, indem sie uns manchmal zurückpfeift, wenn unsere Übertragung völlig am eigentlichen Sinn vorbeigeht.

Beispiel: es gibt keine Geistesgaben mehr
Paulus schrieb im 1.Korinther 13 das „hohe Lied der Liebe“. Darin heißt es, dass alle Geistesgaben nur Stückwerk sind und einmal aufhören werden, wenn „das Vollkommene da ist“ (Vers 10). Manche Bibelausleger sagen nun, das „Vollkommene“ sei die Bibel und Gott habe aufgehört, durch Geistesgaben zu reden, weil die Bibel ja nun fertig ist. Im Umkehrschluss heißt das, dass alle unsere Geistesgaben heute „unecht“ sind. Bestenfalls seelisch eingebildet, schlimmstenfalls dämonisch .
Natürlich stimmt das nicht, und eine ordentliche Exegese des Verses hätte das auch klar gemacht.
Paulus beschreibt ja, wie es sein wird, wenn das Vollkommene da ist: jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. (Vers 12). Auch die Bibel enthält nicht alle Erkenntnis über Gott. Überdies hat Paulus nicht auf die Bibel gewartet (vermutlich hat er nicht einmal damit gerechnet, dass es mal eine geben würde!). Was gemeint ist, ist der Himmel. Dann wird sicherlich nicht mehr prophezeit usw. Aber vorher wird es Geistesgaben immer geben.

Alles in allem hat sich meine Einstellung zur Exegese in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Zuerst hielt ich sie für eine staubtrockene, glaubenstötende Angelegenheit. Mittlerweile weiß ich sie als Anker der Hermeneutik absolut zu schätzen.
Wir werden im Gemeindebau immer wieder mit den seltsamsten Theologien konfrontiert, die alle mit dem Satz beginnen: „Gott hat mir …. gezeigt!“ Wie gut ist es dann, mit der Bibel in der Hand argumentieren zu können, dass es sich um falsche Theologie handelt.

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5 Kommentare

  1. Mit einfachen Worten erklärst du Dinge einfach wunderbar. Danke!

  2. was ich immer mehr liebe an deinem blog ist,
    lernen muß nicht staubtrocken sein.
    es kann sogar echt spass machen.

  3. ein echt guter post.
    mußte ich gerade nochmal lesen.

  4. hey, vielen dank! so sollte es sein: lernen macht spass und geht leicht.

  5. Hallo, ich hoffe das passt hier rein:
    Ich war gestern auf der Hillsong Konferenz hier in London und dort hat Joseph Prince von der New Creation Church in Singapur gepredigt.
    Er hat eine sehr interessante Auslegung von Teilen des AT gehabt, aber ich bin mir nicht sicher was davon zu halten ist. Ich hoffe ihr koennt meinen Auslegungen folgen.
    Also es ging um den ersten und den letzten Buchstaben des hebraischen Alphabets, Aleph und Tav. Jesus sagt ja von sich selbst, ich bin das Alpha und das Omega (erster und letzter Buchstabe des griechischen Alphabet). Jospeh Prince sagt, dass du dafuer eben genauso gut Aleph und Tav nehmen kannst (ich bin das Aleph und das Tav).

    Jetzt gibt es an mehreren Stellen im AT dieses Aleph Tav ?? , zB gleich ins Genesis 1,1 am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und zwischen diesem Himmel und Erde steht dieses ?? , quasi als Mittelpunkt zwischen Himmel und Erde. Es gab noch ein paar weitere Stellen und immer stand dieses ?? im Mittelpunkt der Aussage und es ging darum, wenn ihr das und das macht, dann werde ich euch segnen.
    Joseph Prince hat es dann so ausgelegt, dass Jesus hier quasi immer unterschrieben hat, dass wenn er im Mittelpunkt unseres Lebens steht, dass wir dann im Segen leben. Die Aussage an sich ist ja absolut biblisch.

    Aber kann man dieses ?? auf Jesus deuten?

    Boah, hat irgend jemand verstanden was ich sagen will?

    Ah, hab dazu noch was bei google gefunden: http://yiyadrian.spaces.live.com/Blog/cns!31D88DCF4E994A7!359.entry

    Interessant, oder?

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