12. September 2006 19

Komplexität

Auf dem Weg zum Gottesdienst ist mir Luhmann wieder eingefallen. Eigentlich ist kurz vor dem Godi immer eine schlechte Zeit zum philosphieren, aber das kann man ja nicht immer steuern. Ich habe mich gefragt, wieso ich theologische Systeme immer so schrecklich einengend empfinde. Insgesamt fällt mir auf, dass kein System, weder das katholische, noch das pfingstliche, das calvinistische oder welches auch immer, der Komplexität der Bibel und des Lebens gerecht wird. Speziell bei der ganzen Glaubenstheologie fällt mir immer wieder auf, dass weite Teile des Wortes unter den Tisch fallen und auch das Leben nicht mehr in seiner Gesamtheit begriffen wird.
Ich konstruiere daraus keinen Vorwurf, und wenn dann doch dann nur gegen solche Systeme an sich, nicht gegen ein bestimmtes, auch wenn mich ein ganz bestimmtes im Moment erheblich nervt. Es ist einfach ein Naturgesetz das Luhmann bestimmt hat: die Umwelt hat immer mehr Komplexität als das System. Damit ein System entstehen und sich erhalten kann muss es die Umweltkomplexität reduzieren. Theologische Systeme, die Gemeindeformen und Bewegungen bilden leben immer in einer doppelten Umwelt: Mensch und Bibel. Beide Umweltkomplexitäten müssen sie reduzieren. Sie können gar nicht jeden Teil des Wort auf dem Schirm haben weil die Bibel situativ ist – sie behauptet das eine und das Gegenteil, je nach Situation des Menschen zu dem sie spricht. Ebenso ist der Mensch ein komplexes Gebilde, das erheblich mehr ist als sein Geist, seine Seele oder sein Körper. Das Ganze des Menschen weist Entelechie auf – ist mehr als die Summe seiner Teile.
Wer einem System anhängt zieht immer eine Trennlinie innerhalb des Ganzen, und bringt sich damit um einen Teil der Wahrheit um einen anderen zu besitzen. Auch wenn es zweifelhaft ist ob man kein System haben kann ist hier doch Vorsicht geboten.

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18 Kommentare

  1. Auch ich leide unter dieser, durch Existenz bedingte. immer wieder notwendige Reduktion der Komplexität.
    Ich empfinde ähnlich wie Du. So sehr es mich begeistert, Denksysteme zu benutzen, der fahle Beigeschmack der Einengung bleibt. Vielleicht steckt eine Art „hysterische Angst“ dahinter, um mit Fritz Riemann zu sprechen.
    Nun ja, vielleicht ist dies der „Preis“, den man für Existenz und Leben bezahlt…

  2. Amen! Sehr wertvoll. Du sprichst mir aus dem Herzen.

  3. Denksysteme sind immer „Menschenwerk“ und theologische Denksysteme sind oftmals in einer gegenseitigen Apologetik entstanden und haben sich deshlab oftmals unnötig eingeengt und abgegrenzt, was vielleicht ein Grund von mehreren ist.

  4. ich habe den riemann nie gelesen. aber ich glaube, er steht hier irgendwo. vielleicht werfe ich mal einen blick hinein. obwohl schon der titel nach system klingt… 🙂

    wir sollten als theologen für die bibel stehen, das bedeutet aber auch gegen systeme, die die bibel einengen und durch eine enge brille interpretieren!

  5. „die Umwelt hat immer mehr Komplexität als das System“ – hat das Luhmann direkt so formuliert?

    denn ich sag immer mal gerne „Das Leben ist immer komplizierter als die Theorie“

  6. weiss nicht, ob es ein direktes zitat ist. aber es ist einer seiner lehrsätze über systeme.

  7. seh ich genauso – letzten endes der hauptgrund, warum ich mich gegen ein theologie-studium entschieden habe.

  8. wobei es ja gut ist, die systeme zu kennen, so aus der vogelperspektive. dann hat man eine art überblick.

  9. Ja, das ist schön, daß das Leben voller Vielfalt steckt. Nicht grau in grau sondern unendliche Variationan von Farebn etc in der Schöpfung.

  10. herzlich willkommen, kukka!

  11. Meine Frage: Reduziert Jesus ein/das System, wenn er das Gesetz und irgendwie die ganze Bibel (kann man das so sagen? Gesetz+Propheten=Bibel) in einem Satz zusammenfasst?
    Matthäus 7,12 : Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.

  12. ich finde in einem system zu leben gar nicht so nachteilig. mir gibt das sicherheit, es gibt einen gewissen verhaltenscodex, meist eine von den meisten verstandene sprache. ich erlebe grenzen des systems, kann sie auch dazu nutzen zu hinterfragen, mich weiterzuentwickeln. mir schwebt so ein semipermeables system vor. erkannte wahrheiten bleiben, fragwürdigkeiten werden weiterhin geprüft, auf tauglichkeit getestet und bei bedarf verworfen, erneuert oder zurückgestellt.

  13. klar haben systeme sinn, sonst gäbe es sie nicht. der punkt ist nur, dass sie die realität nur fragmentarisch abbilden.

  14. Ich finde, ein System engt nicht ein, wenn man sich dem bewusst ist, was du sagst. Das eigene Glaubenssystem muss mit der erlebten Realität immer in Rücksprache stehen. Bestes Beispiel für diesen situativen Aspekt ist Jesu Wort „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Mk. 2,27).
    Jesus löst nicht das Gesetz auf, aber er stellt seine Aufgabe deutlich heraus. Das Gesetz soll das Wohl des Menschen garantieren und ist wichtig. Aber wo das Gesetz das Wohl des Menschen aus dem Blick verloren hat, wird es hinterfragbar. Der eigentliche Zweck (Wohl des Menschen) steht höher als die Mittel (Gesetz).

    Und so ist es für den Menschen wichtig, sein „theologisches System“ mit Sinn zu füllen, aber nicht blind und sklavisch. Dafür ist es glaube ich auch wichtig, das Doppelgebot der Liebe nicht als Bestandteil eines Systems zu sehen, sondern als Kontrollinstanz von außen. Wenn ein Christ irgendwie wahrnimmt, dass sein System zwar in sich schlüssig ist, aber auf Kosten der Liebe und der komplexen Lebensrealität des Menschen, dann muss das System hinterfragbar sein, nicht die Realität.
    Ich glaube auch, hierin liegt die Vollmacht Jesu, mit der die Schriftgelehrten nicht umgehen konnten. Er sprengte ihr System. Sie fühlten instinktiv, dass Gott hier am Handeln war, konnten es aber nicht in ihr System einordnen und entschieden sich statt für die Komplexität der Wirklichkeit Gottes für die Sicherheit ihres theologischen Systems.

  15. den sabbat finde ich ein gutes beispiel. aber hat jesus wirklich in seinem glaubenssystem gelebt und von dieser warte aus in rücksprache mit der realität gestanden? hat er nicht vielmehr das alte system überwunden und aufgelöst? möglicherweise um ein neues system zu schaffen? wobei ich letzteres nicht glaube.

  16. hm, er war Jude und ist im jüdischen System aufgewachsen. Er kannte die Schrift und diskutierte in der Synagoge mit den Pharisäern. Vielleicht hat er die Thora mit anderen Augen gelesen als viele Schriftgelehrte, aber er hat sie gelesen und studiert.
    Er sagt ja, er ist zu den Kindern Israels geschickt. Er ist im jüdischen Glaubenssystem aufgewachsen und in es hineingestellt. Selbst am Kreuz fängt er noch an, einen Psalm zu beten. Er schöpfte seine Kraft von dem Gott Jahwe, wie er im Judentum angebetet wurde damals.
    Nur wusste er, dass seine Kraft letztendlich nicht aus dem System kommt, sondern aus Gott selbst. Ich glaube nicht, dass er das System aufgelöst hat. Er hat es auf seinen Ursprung bezogen und damit ins rechte Licht gerückt.
    „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ (Mt. 5,17)

    Deswegen kann auch das Ziel des Menschen nicht sein, ein System durch ein anderes zu ersetzen. Das war vielleicht auch der Fehler von Kommunismus etc. Jedes System ist immer nur so ethisch wie die Menschen die in ihm leben.
    Wichtiger ist es, das System am richtigen Platz einzuordnen, nämlich in die Verantwortung vor Gott. Erst die Rückbindung an Gott macht aus einem äußerlichen System ein inneres Anliegen.

  17. ich kopiere mal eine kommentrateil von markunga hier rein, der hier reingehört:

    @storch
    halte Jesus auch für systemfrei in seiner Übernatürlichkeit. In seiner Menschensohnzeit war er sehr schlau im Umgang mit den Systemen mit denen er konfrontiert war.

    das kann ein echter schlüssel zum verständnis sein. denn tino hat natürlich recht, jesus war zu erdenzeiten in dem system „judentum“, wenn er es auch interpretiert und geweitet hat. ich denke aber, dass der allwissende gott nicht systemisch ist.
    ausserdem biete ich zu meinem post eine begriffsklärung an. theologische systeme sindsubsysteme des systems „christliche religion“. auf jesus angewandt hiesse das, dass er zwar in dem system „judentum“ war, aber nicht in einem seiner subsysteme, wie „pharisäer“, „sadduzäer“ usw.
    genau das ist es ja wofür ich versuche eine lanze zu brechen: das christentum ist opti, der rest ist subopti, egal ob darbyismus, glaubensbewegung oder katholizismus.

    toll, jetzt habe ich mit allen denominationen streit… 🙂

  18. „ich denke aber, dass der allwissende gott nicht systemisch ist.“

    ja, genau das mein ich ja. Jesus lebte seine Beziehung zum Vater im Kontext des Judentums, mit den Begriffen und Kulten des Judentums. Aber alles das, das ganze System ist nur äußerlicher Ausdruck seines inneren (systemlosen) Einsseins mit Gott. Dieses Einssein mit Gott ist der eigentliche Kern, der weit über jeglichem System steht. Aber das Nach-Außen-Tragen dieses Einsseins und das Kommunizieren mit anderen Menschen geht eben über das System.
    Von daher würde ich sogar das System „Christentum“ noch als subopti bezeichnen. Das „Christentum“ versorgt uns zwar mit dem unglaublich reichen Schatz des Redens über Gott, mit Begriffen, einem Erfahrungsschatz von vielen Leuten. Aber dieses ganze System kann auch irgendwie gelebt werden, ohne den Kern der Beziehung zu Jesus zu haben.
    Erst der persönliche Glaube füllt dieses System mit Sinn. Und dieser Glaube ist systemlos, weil individuell. Das Evangelium ist die Erfüllung des Gesetzes, der Glaube ist die Erfüllung des Systems. Gesetz ohne Evangelium ist nichts, System ohne Glaube ist nichts.

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