27. Dezember 2005 6

lernen und vergessen

Und seid nicht gleichförmig dieser Welt, sondern werdet verwandelt durch die Erneuerung des Sinnes, daß ihr prüfen mögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. (Römer 12,2 nach der Elberfelder)

die erneuerung unseres sinnes macht alles leichter. so wie ich es verstehe ist sie ein wesentliches ändern unseres denken und eine änderung unseres denkens führt immer zu einer änderung unseres handelns. das ist einer der grossen unterschiede zwischen altem und neuem testament: im AT hat man sein handeln geändert, man hat einfach dinge gelassen; im NT wird man verändert und handelt gemäss der veränderung dann auch anders. eines der grössten missverständnisse gesetzlicher christen ist es, eine wesensveränderung durch änderung von taten herbeiführen zu wollen.
bei meinen versuchen, in der veränderung gottes zu leben ist mir ein problem immer wieder zum ärgernis geworden, dass niklas luhmann auf einen sehr schönen punkt bringt:“(niklas luhmann: soziale systeme, suhrkamp 1987, Seite 448)“:: soweit lernen an das dingschema gebunden ist, erfolgt es im allgemeinen kumulativ. würde man erfahren, dass es sich bei avocados um indianische wurfgeschosse handelt, würde dies das wissen der essbarkeit von avocados nicht löschen, sondern nur ergänzen. die welt wird durch lernvorgänge komplexer. und vergessen ist, besonders in gesellschaften ohne schrift, das dazugehörige korrektiv.

für luhmann war es wichtig, sich vom dingschema der alten ontologie zu distanzieren. für uns wird das nicht alltagstauglich sein: wir denken und reden in gegenstandsmetaphern. „segen“ ist ding, genauso wie ein stuhl, ein tier oder sonstetwas. mir fällt immer wieder beim schreiben und predigen auf, wie schwer es ist, nicht alles zu vergegenständlichen. alltagssprachlich ist jeder versuch, sich die realität als nicht (nur) gegenständlich zu verstehen und zu beschreiben nichts als philosophische spitzfindigkeit. so können wir davon ausgehen, dass „luhmanns wissenkumulation“ für jeden bereich des lernens anwendbar ist.
in der praxis der charakterveränderung wünschen wir uns etwa folgendes schema: falsche prägung erkennen –> richtiges lernen –> falsche prägung restlos vergessen –> neues leben. dummerweise sammeln wir eher wissen an, als dass wir alte fehlinformationen oder gar fehlprägungen vergessen. alles, was wir über gott und das leben mit jesus lernen, wird zunächst einmal dem bisherigen wissen hinzuaddiert und stellt uns in einen kampf der prinzipien, in dem wir immer wieder entscheiden müssen, was wir glauben und wie wir handeln. so ist es zu erklären, dass du zwar das wissen haben kannst, dass gott dich liebt, aber deine lebeserfahrung geht so in die andere richtung (niemand liebt dich), dass dieses wissen immer theoretisch bleibt.
das (hinzu)lernen ist sicher nicht unser grösstes problem. altes und falsches zu verlernen und zu vergessen ist viel schwieriger. um etwas richtiges zu erfahren muss man nur ein buch lesen oder eine predigt hören. um etwas falsches zu vergessen (zu löschen) brauchen manche lange seelsorge.
natürlich ist dieser mechanismus an sich sinnvoll: es wäre fatal, wenn immer nur die neueste information gespeichert würde. dann wäre entwicklung nicht möglich. aber speziell in bezug auf göttliche veränderung kann uns dieser mechanismus leicht ein bein stellen – wie immer hat die medaille zwei seiten. wir balancieren ständig den vorteil, uns schnell neues aneignen zu können, gegen den nachteil, altes schwer zu vergessen, aus. es wäre interessant zu lernen, wie man das vergessen manipulieren kann, so dass man schneller in veränderung wächst…

die komplexität, die durch lernen erzeugt wird, wirkt sich in unserem leben verwirrend aus. je länger wir dabei sind, um so mehr blickwinkel bekommen wir auch das leben, die bibel, gott und eigentlich alles. mit der zeit hat alles eine, zwei oder tausend seiten und es fällt uns schwer, uns zu entscheiden und entschieden zu leben. bei aller liebe zur komplexität ist das ihre absolute schwachstelle: sie kann lähmend wirken für jedes engagement und jeden glaubensmut. wenn vergessen schon so schwer fällt, ist vielleicht entschiedenheit ein gutes mittel gegen zu viel komplexitätsgewinn. ein beispiel: ich lese in der bibel, dass gott mein versorger sein will, dieses wissen wird addiert zu der erfahrung, die ich durch meine eltern gemacht habe, die als missionare in der antarktis von der hand in den mund gelebt haben. es kommt zu einem hin- und hergerissen sein. ich habe beides gelernt: gott will und es scheint nicht immer zu klappen. mit der zeit mache ich positive erfahrungen mit gottes versorgung und auch dieses wissen wird hinzuaddiert. in mir verbindet sich mit dem satz: „gott ist mein versorger“ immer mehr komplexität und ich möchte jedes mal aufschreien: „so einfach ist das nicht!“, wenn einer von versorgung spricht.
wenn ich handlungsfähig bleiben will, muss ich komplexität reduzieren, sonst hänge ich in einem konsequenzlosen „dies aber auch das“ ohne jede trennschärfe fest. da mir der ausweg über das vergessen verwehrt ist bleibt nur der andere: position beziehen und verteidigen – entschlossenheit.

Be Sociable, Share!

5 Kommentare

  1. Storch, es ist wirklich faszinierend wie Gott mittlerweile auch durch Deinen Blog in mein Leben spricht. Du bist einer der wenigen, die mit einer Tiefe gesegnet sind, die meinen Durst nach Tiefgründigkeit stillen kann. Du bist begabt undurchsichtiges klar zu formulieren. Ich bin überwältigt von der sprachlichen Präzision, die mir als Poet wohl manchmal fehlt. Es ist, als könnte ich halt Bilder malen und Du bist in der Lage die analytische Ausarbeitung dazu zu verfassen. Ich danke Dir für Deine „Arbeit“ und ich danke Gott dafür, daß ich darauf „gestoßen“ wurde.

    Ich habe gestern bei einem landeskirchlichen Gottesdienst Musik gemacht und ich war zum einen überrascht über die gute Predigt, aber zum anderen auch enttäuscht, denn es war quasi eine „Grundlagenpredigt“, fast eine „evangelistische Predigt“ und das vor „Christen“, von denen die meisten nicht erst seit gestern Rente beziehen. Der Pastor war neu und ich fürchte fast, daß diese Leute Zeit ihres Lebens keine Predigten mit solcher Tiefe gehört hatten. Danach musste ich daran denken, was wohl mit unserer Gemeinde passiert wäre, wenn Du nicht gekommen wärest. Wären wir dann auch eine von den zahlreichen Gemeinden, wo vielleicht „eifer“ en masse vorhanden ist, aber keine Weisheit, keine Klarheit?

    Es liegt mir ja eigentlich fern Menschen zu idealisieren und ich denke auch oft, daß Menschen irgendwie ersetzbar sind. Wenn der eine etwas nicht tut, dann wird es halt irgendwer anders tun. Aber dann gibt es doch wieder Dinge, wo ich das Gefühl habe: das hätte niemand anderes machen können. Ich bin zumindest glücklich, daß Du hier bist und Deinen Job machst. Das ist gut.

    „Vergessen Du musst, was bisher gelernt Du hast.“ [Meister Yoda ;)]

  2. starker beitrag, storch. einiges mehr per email. haso.

  3. hi haso,

    kannst du gerne auch in den blog schreiben. ehrlich gesagt diskutiere ich mittlerweile lieber über dieses medium als über mail. mail hat immer so was „geschäftliches“ an sich. blog ist denken und gedankenaustausch.
    wenn es für blog zu persönlich ist oder so, geht es natürlich auch über mail.

    segen,

    storch

  4. Hi Storch,

    ist wahrscheinlich mehr so ne psychologische Kiste von mir. Comments find ich gut für spontante Reaktionen und wo was. Bei Mails habe ich mehr das Gefühl, in Ruhe was ausbrüten zu können. Aber man kann sich ja ändern. Next time – comment time.

    Haso

  5. dito `das jan`…
    mich spricht deine art zu denken, zu analysieren, in die tiefe zu gehen, etc. sehr an!
    vielen dank für deine beiträge!

Ein Pingback

  1. […] (Luhmannzitat auf Theologie angewandt) – wenn Recht sich überholt – Rente und Sterben (Zitat) – lernen und vergessen […]

Schreibe einen Kommentar

Diese HTML-Tags und Attribute sind erlaubt: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>