16. August 2005 0

walter satterthwait

heute möchte ich mal einen roman empfehlen. gestern nacht las ich „scharaden“ von walter satterthwait zuende. ich hatte schon etwa ein halbes dutzend oder mehr bücher von ihm gelesen und war von den anderen schon sehr beeindruckt. er ist definitiv ein lesenswerter schreiber.
normalerweise mache ich mir wenig aus romanen, lese vielleicht zwanzig im jahr. was ich niemals tue ist einen roman zuende lesen., der es nicht auf den ersten maximal fünfzig seiten schafft mich zu unterhalten. satterthwait ist das immer gelungen, er hat einen dichten, lustigen, manchmal ironischen stil und – was auf immer weniger bücher zutrifft – einen guten übersetzer. in der reihe mit phil beaumont und jane turner, aus der auch scharaden ist, tauchen historische persönlichkeiten der frühen zwanziger jahre auf, die plots sind kriminalistisch und sehr gut ausgearbeitet. diesmal ermitteln die beiden 1923 in einem hitler-attentat und ich bin tief beeindruckt, dass es ein amerikaner(!) schafft, ein so nachvollziehbares portrait des beginnenden nazi-deutschlands zu zeichnen. meistens ist das ergebnis eher abstrus, wenn amis sich an deutsche historische stoffe machen. diesesmal war es zeitweise richtig beklemmend. als beispiel eine kleine leseprobe der seiten 103-105:

nun ja, du magst dich fragen, ob dieses gespräch nicht vielleicht ein klein wenig zu freizügig war, besonders da erik und ich uns erst eine stunde zuvor vorgestellt worden waren.
ich kann nur sagen, evy, dass mir dieses thema hier in berlin, wo sich eine lüstern grinsende sexualität wie ein grauer dunst über alles gelegt hat, für ein gespräch zwischen zwei kultivierten erwachsenen vollommen normal vorkam. dass ich hinter der maske der kultiviertheit mit weit aufgerissenen augen und offenem mund dadass, wollen wir mal beiseite lassen.
am meisten hat mich der gedanke verstört, dass kinder sich prostituieren. was wird mit diesen jungs und mädchen geschehen, wenn ihr wichtigster besitz, ihre jugend, zerstört ist? was geschieht jetzt mit ihnen, hinter dem verführerischen lächeln und den undurchdringlichen augen?
es war nicht meine absicht, dir die laune zu verderben. aber ich finde die situation hier schrecklich und bedrückend.
ich spüre, dass es erik ebenso ergeht. hinter seiner kultivierten maske trägt er, wie ich vermute, ein wutverzerrtes gesicht. auf der rückfahrt zum adlon konnte ich einen flüchtigen blick darauf erhaschen. ich hatte ihn gefragt, ob es hoffnung gebe für deutschland, für berlin, für die kinder.
er sah mich an. als das taxi an einer strassenlaterne vobeifuhr, glitt ihr schein kurz, wie eine unsichere, liebkosende hand, die nicht zu verharren wagt, über sein gesicht. er hat schwarzes haar und sehr dunkle, braune augen. „ja“, sagte er, „ich glaube, die gibt es. manchmal habe ich im schlaf eine vision.“
„eine vision?“
„ja, es ist immer die gleiche.“ er lehnte sich zurück und guckte nach oben, als wollte er durch das dach des taxis sehen. sein profil zeichnete sich deutlich vor den lichtern der strasse ab. „ich sehe eine feuersbrunst“, sagte er.
als wieder licht auf sein gesicht fiel, sah ich, dass seine augen geschlossen waren.
„sie wüted in ganz deutschland. in den städten stürzen stolze gebäude ein und hinterlassen nur ruinen., von grossen monumenten bleibt nichts als staub. auf dem land fallen bauernhöfe, felder und wälder den flammen zum opfer. überall steigen ölige, dicke, schwarze wolcken zu einem himmel hinauf, an dem die sonne den qualm nicht mehr durchdringen kann.“
seine stimme ist ein voller, weicher bariton, evy, und wenn er spricht, spüre ich manchmal direkt, wie sie mir sanft ins rückgrat fährt.
„ich verstehe nicht“, sagte ich, „warum diese vision ihnen hoffnung gibt.“
lachend wandte er sich mir zu. in den dahinhuschenden schatten des fahrenden taxis sah ich sein augen nicht, aber ich hört an seiner stimme, dass er lächelte. „aber liebe jane“, sagte er. „diese vision ist nur ein traum. und wie alle träume trägt er eine symbolische bedeutung. er zeigt die drastischen veränderungen, die über dieses land kommen müssen, die über dieses land kommen werden. sie kennen doch die geschichte aus der bibel, in der jesus die geldwechsler aus dem tempel vertreib?“
„ja“, sagte ich.
„genau das,“ sagte er, „braucht deutschland jetzt. jemanden, einen führer, der die habgier vertreibt, die korruption, die verzweiflung, die uns alle infiziert hat wie eine fäulnis. einen, der die kriegsgewinnler vertreibt, die ausbeuter, die schwindler, die diebe.“
„aber war es nicht so“, warf ich ein, „dass jesus ziemliche schwierigkeiten bekommen hat, nachdem er die geldwechsler vertrieben hatte?“
wieder lachte er. „das ist wahr. wir deutschen brauchen einen führer, der über den tempel hinaus planen kann.“
„und sie glauben, herr hitler ist dieser führer?“ …

ISBN 3-442-45026-8

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