18. Januar 2010 7

jüdische Dogmatik

Zur Zeit Jesu waren die stets bis ins einzelne gehenden rabbinischen Kommentare und Verhaltensmaßregeln auf einen kaum noch überschaubaren Umfang angewachsen, insbesondere wenn man bedenkt, dass sie nach wie vor nur mündlich und nicht etwa schriftlich überliefert wurden! Diese mündlichen Überlieferungen bildeteten die sogenannten „Satzungen der Ältesten“, von denen das Neue Testament spricht (z.B. Mt.15,2; Mk.7,5). ihre Auslegungen des Gesetzes galten als ebenso verbindlich wie das Gesetz selbst, und genau darauf zielt Jesu Ausspruch: “ Wie fein hebt ihr Gottes Gebot auf, damit ihr eure Satzungen aufrichtet“. (Mk 7,9)((McDowell, Josh (1995): Jesus von Nazareth. Neuhausen-Stuttgart: Hänssler, S. 102))

Dieses Prinzip gibt es in jeder Religion und, das kann man ruhig erweitern, auch in jeder Geisteswissenschaft. Um eine Theorie herum bildet sich mit der Zeit eine Kruste von Auslegungen, die sich verselbständigen. Es wäre einfach, an dieser Stelle mit dem Finger zu zeigen auf katholische oder evangelische Dogmatiker. Viel interessanter, weil es für uns alle gilt, ist dagegen die ehrlich Feststellung, dass wir alle Wahrheit und die Welt schlechthin durch Raster wahrnehmen, die wir um die Welt herum gebaut haben. Ich stelle es immer wieder fest, wie schwer es ist, einen Bibeltext zu lesen OHNE gleich alles so zu verstehen, wie man es schon lange versteht.
Es ist schwer, Gottes Wort auf sich wirken zu lassen und an sich herankommen zu lassen, wenn man es schon kennt und Dinge verstanden hat. Vielleicht haben die wenigsten ein festgeschriebenes System, das ihnen vorgibt wie sie die Bibel verstehen müssen, aber ein System haben sie dennoch. Die Wahrnung Jesu muss man sich echt zu Herzen nehmen, denn es ist schlimm, wenn „die Satzungen der Ältesten“ das lebendige Wort ersetzen. Es muss für Gott möglich sein, uns zu überraschen, uns immer wieder Neues zu zeigen ohne dass wir einen Rahmen haben, den wir nie mehr verändern wollen und der für ewige Zeiten feststeht.

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7 Kommentare

  1. Hallo storch!

    Man müßte ergänzen, daß es eine „jüdische Dogmatik“ in der Gestalt, wie wir sie im Christentum kennen, eigentlich nicht gibt. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, daß das Judentum wesentlich weniger nach der rechten Lehre fragt, als vielmehr nach dem rechten Tun.

    Etwas entfernt ähnliches wie eine Dogmatik gab es im Judentum eigentlich erst mit Maimonides im 12. Jahrhundert n.Chr. – aber auch hier nicht wirklich als „summa“ der Theologie. Dementsprechend umstritten waren und sind die einzelnen Artikel dieser „Dogmatik“ dann auch im Judentum, heute kommen sie nur noch teilweise als so etwas wie ein gesungenes Gedicht im Anschluß an jüdische Feiertags-Gottesdienste vor.

    Das von Dir angesprochene Grundproblem bleibt aber natürlich: daß der Versuch, das Wort Gottes im Menschenwort zu aktualisieren und dafür dann Verbindlichkeit zu beanspruchen (ob das nun die Lehre oder das Tun bzw. beides zusammen betrifft), in der Tat dazu führen kann, Gottes Wort zu entschärfen oder zu verfälschen und die „eigene Meinung“ durchzudrücken – letztlich wohl, um in irgendeiner Form Macht auszuüben.

    Andererseits kann man den Umstand, daß wir Gottes Wort immer nur im Menschenwort empfangen können, auch positiv als logische und zunächst nicht weiter beunruhigende Konsequenz dessen verstehen, daß Gottes Wort – analog zur Menschwerdung Gottes in Christus – in Knechtsgestalt begegnet (den Gedanken hat vor allem Johann Georg Hamann starkgemacht) – positiv, solange dabei, wie Du ja auch sagst, ernstgenommen wird, daß menschliche Denkschemata immer geschichtsbedingt sind und deshalb immer auch im Lichte der Mahnung Jesu betrachtet werden und ggf. korrigiert werden müssen.

    Ich denke, letztlich geht es darum, Gottes Wort und mehr noch unser Verständnis desselben nicht starr werden zu lassen, sondern in einer lebendigen Bewegung (vom Gebet um das rechte Verständnis, über das Verstehen des Wortes hin zur Korrektur dieses Verständnisses und dann wieder vorne angefangen) zu bleiben und damit die Uneindeutigkeit von Geschichte (und damit ist vor allem unsere eigene Uneindeutigkeit gemeint) ernstzunehmen und Gott wirklich Gott sein zu lassen.

  2. Hallo ihr Beiden!

    Grundsätzlich stimme ich euch beiden in dem was ihr sagt zu, doch trotzdem bleiben Fragen offen:
    Wenn, wie wir als Christen jeglicher Form gerne behaupten, die Menschen um uns herum tatsächlich einen Hang zur Spiritualität und damit zur Suche nach DER Wahrheit haben, wie sollen diese Menschen bitte damit umgehen, dass selbst die „Gelehrten“ unter den Christen ständig ihr „Verstehen des Wortes Gottes“ neu definieren und ihr altes System umwerfen. Wenn die Sicherheit nach dem Verständnis des Wortes Gottes nicht mehr sicher ist, wie können wir den Menschen Antwort auf die Fragen des Lebens bieten?

    Ich bin total dafür, dass wir unsere Rasterwahrnehmung akzeptieren und unsere Dogmatik immer wieder neu hinterfragen, aber dann müssen wir Menschen entweder eine „Halbwahrheit“ präsentieren, mit der Versicherung, dass sich diese in den nächsten Jahren wieder ändern wird, oder aber offen gestehen, dass wir die Antworten auf die Fragen nicht kennen und auch niemals – zumindest nicht in diesem Leben – eine Antwort finden werden.
    Sind wir fähig das zuzugeben?

  3. @ Tobias:
    stimmt natürlich, was du sagst. das war auch nur kontrastierend gemeint.

    @ Andreas:
    erst einmal herzlich willkommen.

    das ist ein guter Punkt, der ja in relativ aktuellen diskussion (emerging church) immer wiedr neu diskutiert wird. ich meine aber, dass er in der Praxis nicht entscheidend ist, denn auch ohne unverrückbare dogmen stehen wichtige sachen einfach fest. ich kann zar für manche punkte keine garantie für meine theologische sicht abgeben, weil gott mich auch immer wieder korrigiert oder tiefer treibt, aber die grundzüge stehen schon sehr lange fest.
    im grunde geht es darum, so weich zu sein, dass man immer mal hinter die dogmen zurück direkt zum wort gehen kann.
    zu wesentliche lebensfragen muss ein prediger schon was sagen können.

  4. @storch:
    Sind die Antworten auf die wesentlichen Lebensfragen dann auch unabhängig vom geschichtsbedingten Verständnis des Wortes, von dem Tobias gesprochen hat?
    Denn wenn nicht, dann müssen wir jederzeit damit rechnen, dass eine Umwälzung des Weltsystems, wie wir es derzeit kennen, ebenfalls eine Umwälzung unseres Verständnisses vom Wort Gottes bedeuten könnte.

    Glaubst du nicht, dass auch Grundzüge, egal wie lange sie feststehen, nicht trotzdem erschüttert werden könnten?

    Ich gebe dir allerdings völlig recht, dass wir in der Praxis Gott sei Dank nicht von unverrückbaren Dogmen bestimmt werden müssen. Das große Risiko ist aber, dass die „wichtigen Sachen“ in meinem Leben, meine persönlichen Dogmen von morgen werden.

  5. @Andreas:

    Also, da würde ich mal sagen, daß auch der christliche Glaube – ähnlich dem jüdischen – zumindest in seinem Anfang und Grund nicht von der Orthodoxie lebt, sondern von dem, der den Glauben schenkt: dem Heiligen Geist.

    Insofern wird die Furcht, auch die Grundzüge des Glaubens könnten letztlich verfehlt sein, doch deutlich relativiert. Glaube ist eben nicht primär ein Für-wahr-Halten, sondern eine lebendige Zuversicht, die wir nicht selbst bewirken können.

    Das darf freilich nicht in Schwärmertum ausarten – die Schrift bleibt das Korrektiv, aber eben nicht so, daß wir zunächst einmal die eine „richtige“ Auslegung des Wortes Gottes haben müßten, um überhaupt „richtig“ glauben zu können, sondern im Sinne der „lebendigen Bewegung“, die ich oben erwähnt habe.

  6. @Tobias

    Ich stimme dir grundsätzlich zu, jedoch beantwortet das nicht meine Frage!
    Außerdem beziehe ich mich ja auch nicht auf meinen persönlichen Glauben, sondern auf die Reaktion auf Menschen, die an mich herantreten, um meinen Glauben zu hinterfragen, bzw. zu erfragen. Natürlich kann ich dann versuchen die lebendige Zuversicht weiter zu geben und hoffen, dass der Geist Gottes etwas in diesen Menschen bewirkt, um jedoch wissenschaftlich zu bleiben reicht die Zuversicht allein als Argument nicht aus. Dann muss es schon zu einem Für-Wahr-Halten kommen.
    Denn sonst wird (zumindest für Aussenstehende) der Glaube sehr schnell zu Schwärmerei.
    Ich bin mir zwar bewusst, dass Glaube schwerlich wissenschaftlich erklärt werden kann, aber als Theologe stehe ich immer vor der Herausforderung den ernsthaften Dialog mit anderen Wissenschaften und deren Vertretern zu suchen!

  7. Ich würde dennoch sagen, daß das letztlich die einzig mögliche sinnvolle Antwort ist – auch aus wissenschaftlicher Perspektive, sofern man die wissenschaftstheoretische Eigenart der Theologie ernstnimmt, was ja bedeutet, daß Glaube letztlich immer auch mit Offenbarung zu tun hat. Weniger zumuten kann ich einem Außenstehenden nicht.

    Möchte man auf die Zumutung der Unverfügbarkeit von Glaube verzichten und mit einer rein immanenten Hermeneutik arbeiten (damit allerdings auch nicht mehr eigentlich theologisch argumentieren), dann bleibt festzustellen, daß Verstehen immer vorläufig ist und deshalb unter dem Vorbehalt einer möglicherweise notwendigen Revidierung steht.

    Letzteres trifft natürlich auch auf die konkrete Glaubensgestalt zu, insofern Glaube eine lebendige Beziehung ist. Die „Unrevidierbarkeit des Glaubens“ gilt m.E. nur für den letzten Grund des Glaubens, sozusagen für das bloße „Daß“ des Glaubens.

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