25. April 2009 14
Sex in Herrnhut
In einem wirklich außerordentlich schlechten Buch von Per Olov Enquist1 habe ich folgendes bemerkenswerte Zitat über das Liebesleben der Herrnhuter gefunden. Da keine Quellen genannt sind, würde mich interessieren, ob es authentisch ist. Nicht für Geld und gute Worte würde ich bei diesen Menschen Ältester gewesen sein wollen.
Wir waren ja im Grunde alle Herrnhuter. Lächerlich, sich für die Wurzeln der Sexualität zu entschuldigen, oder zu schämen. Wenn die Herrnhuter in Böhmen – noch in der Mitte des 18.Jahrhunderts – heiraten wollten, wurde das Paar in das blaue Zimmer geführt, und der erste Beischlaf musste dort unter der Aufsicht eines Gemeindeältesten vollzogen werden. Der Akt war dabei ritualisiert, wie ein Gottesdienst: der Bräutigam sollte mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden sitzen, und die Frau mit gespreizten Beinen über im sitzen.
So sollte die Entjungferung vollzogen werden, in Anwesenheit eines Gemeindeältesten auf einem Stuhl an der Wand.2
Als Experten in Sachen Herrnhut frage ich mal Markus L. Das war doch nicht wirklich so, oder?
- wie konnten Sie „das Buch von Blanche und Marie“ nur veröffentlichen, Herr Enquist? So sehr ich „Ingenieur Andrées Luftfahrt“ schätzte, so sehr langweilte und ärgerte mich dieses Machwerk. Hat da Ihr Praktikant versehentlich die falschen Unterlagen zum Drucker gebracht, bevor Sie die Gelegenheit hatten diese ins Reine zu schreiben? [↩]
- es spricht nicht für das Zitat, dass mal auf dem Boden und dann auf dem Stuhl gesessen wird. Aber so ist das Buch eben. Ach ja, Seite 47 [↩]
Tobias Lampert schrieb am
25. April 2009 um 08:59Zur Fußnote 2: Das liegt wohl eher an der Übersetzung als am Zitat selbst. Manchmal recht unglückliche und mißverständliche Übersetzungen sind bei Enquists Büchern scheinbar die Regel – hab ich festgestellt, nachdem ich einen seiner Romane nach der norwegischen Lektüre (also quasi eines „Dialekts“ des Originals) auf deutsch las.
Gemeint ist: locus delicti für das Brautpaar war der Fußboden, während der Gemeindeälteste auf einem Stuhl saß und zusah (deshalb auch kein Komma nach „in Anwesenheit eines Gemeindeältesten“). Die Quelle dafür würde mich in der Tat auch einmal interessieren – wobei ich das den alten Herrnhutern schon zutrauen würde … 😉
Ach ja, wenn nicht schon von Dir gelesen: ein wirklich hervorragender Enquist-Roman mit Referenzen aufs Herrnhutertum ist „Lewis Reise“!
LG,
Tobias
Ludwig schrieb am
25. April 2009 um 09:46Als Mitglied der Brüdergemeine Herrnhut und in Herrnhut lebender muss ich sagen, dass mir so etwas Obskures in keiner einzigen Schrift vorgekommen ist. Da muss jemand mit großer Fantasie am Werk gewesen sein.
Ausserdem waren die Herrnhuter Mitte des 18. Jahrhunderts nicht in Böhmen, sondern größtenteils in Sachsen und von einem blauen Zimmer habe ich noch nie etwas gehört. Soviel zur Faktenlage.
Kann man sich sicher sein, dass der gute Herr Enquist uns nicht mit einer Sekte verwechselt? Ich hätte hier eine zur Auswahl, die sich unpraktischerweise nach uns benannt hat: http://www.teachers.ash.org.au/dnutting/germanaustralia/d/d-krummnow2.htm
Tobias Lampert schrieb am
25. April 2009 um 10:33Ich bin mir ziemlich sicher, daß Enquist hier tatsächlich die Herrnhuter Brüdergemeine meinte, nicht irgendeine obskure Sekte: wie gesagt, auch in seinem Roman „Lewis Reise“ z.B. beschäftigt er sich sehr intensiv damit – und das (bei aller schriftstellerischen Freiheit) durchaus mit einem gesunden historischen Interesse.
Aber ich kann mir schon vorstellen, daß Enquist sich in diesem Fall etwas mehr „schriftstellerische Freiheit“ genommen hat … 😀
albi schrieb am
25. April 2009 um 12:09also, ob das so war oder nicht kann ich nicht beurteilen.
wenn man bedenkt das die frauen für einige missionare in fernen ländern gelost wurden (natürlich sehr reflektiert und im gebet), kann man es nicht so einfach ausschließen.
weitere infos könnte es auch direkt im archiv der herrnhuter geben:
http://www.archiv.ebu.de/
bender schrieb am
25. April 2009 um 14:12zum glück gibts heute digicam und email, da reicht das, wenn das paar filmt und das ganze dann nachher dem ältesten zuschickt…. 🙂
ist tatsächlich die frage für wen das (falls es nicht eh fiktion ist) schlimmer gewesen ist, den leiter oder das paar
aber da im namen von religion, auch der christlichen, ja bekanntermaßen über die jahrhunderte die eine oder andere unglaublichkeit vollbracht wurde, wäre ich jetzt auch nicht total verwundert wenn es so gewesen wäre
Norbi schrieb am
25. April 2009 um 15:25ich habe da von auf jeden FALL SCHON MAL VON GEHÖRT, habe aber auch keine Quelle, müssen wir wohl noch auf Markus warten
Martin Dreyer schrieb am
25. April 2009 um 18:32Zum schreien. Ich frag mich, wie der Zuschauende das mit seiner Phantasie klar gekriegt hat. Ich mein, eine erotische Szenerie ist das schon, so oder so. Andere Leute gehen für sowas in eine Peepshow. Stilblüten des Christentums, davon gibt es aber noch viele.
Frollein Friede schrieb am
25. April 2009 um 22:46@Martin: Naja, ich schätze das Ganze war vermutlich so erotisch wie ein Besuch beim Frauenarzt 🙂
Björne schrieb am
26. April 2009 um 03:31@Frollein, guck mal bei Google zu dem Thema…
Herrnhuter Brüder & Erdmuthe Dorothea, Gräfin von Zinzendorf. 😀
Hätte mich interessiert was sie zu dem Thema gesagt hätte.^^
Nuja, die Brüder roggen einfach, ne?!
Björne 😉
storch schrieb am
27. April 2009 um 09:17@ TL: meine frau hat lewis reise gelesen und mir sehr davon abgeraten. da habe ich drauf gehört. in diesem buch liegt das problem sicher nicht in der übersetzung sondern in den ständigen wiederholungen, den spekulationen, den einschüben, usw. der experimentelle satzbau mag dem übersetzer zu lasten gehen, allerdings schätze ich, dass er gerade da gut gearbeitet hat.
Tobias Lampert schrieb am
27. April 2009 um 11:56Tja, so können die Geschmäcker auseinandergehen. Ich fand und finde Lewis Reise ganz, ganz große Literatur – und in Blick aufs Thema durchaus lesens- und nachdenkenswert. Aber auf seine Frau sollte man in der Regel hören – ich will Dich also nicht zur Lektüre überreden … 😉
Mal sehen, vielleicht führe ich mir Blanche und Marie einmal zu Gemüte – aber eigentlich hast Du mir jetzt schon die Lust darauf verdorben.
LG,
Tobias 🙂
storch schrieb am
27. April 2009 um 14:06wenn ich dir ein paar unangenehme stunden erspart habe hat sich der post schon gelohnt 🙂
Ludwig schrieb am
2. Mai 2009 um 08:45Ein Quellennachweis von Enquist wäre eine gute Sache. Es passt einfach nicht zu den Herrnhutern.
Für mehr Infos habe ich die wichtigsten formalen Grundlagen der Herrnhuter digitalisiert, die Herrnhuter Statuten, welche fünf Jahre nach der Gründung des Ortes aufgestellt wurden:
http://herrnhut.blogspot.com/2009/05/die-statuten-von-1727-ii-bruderlicher.html
http://herrnhut.blogspot.com/2009/04/die-statuten-von-1727.html
Pater-Brown schrieb am
7. März 2015 um 13:10Nun, an der Geschichte ist etwas wahres dran. Bis heute wußte ich auch nichts davon, aber es gab eine gemeindliche Ehevorbereitung. D.h. in den Tagen vor und nach der Heirat (die normalerweise wenige Tage nach der Verlobung stattfand, was kaum Zeit für „Zweisamkeit“ ließ) lebte das junge Ehepaar bei dem Helferehepaar des Ehechores. Zur Erklärung: Die Gemeinde war in Chöre eingeteilt (Ledige, Verheiratete, Verwitwete – teilw. altersgetrennt) und jeder Chor war gemeindlich organisiert mit Leitern, Seelsorgern, etc., meistens auch wirtschaftlich organisiert. Dieses Helferehepaar erklärte also dem jungen Paar alles, was es über das Verheiratetsein wissen musste inklusive des Sexuallebens. Enquist übertreibt hier hinsichtlich dessen, dass der erste Beischlaf unter Aufsicht gewesen wäre, aber es stimmt, dass der erste Beischlaf also im Haus des Helferehepaars war und sie vorher gemeinsam dafür beteten und am nächsten Morgen am Frühstückstisch sich darüber unterhielten. Sinn dahinter war hierin nicht ins Fleischliche oder Lüsterne zu verfallen.
Betreffs der Quelle: Ein Vortrag heute morgen im Herrnhuter Archiv (http://www.archiv.ebu.de/).