Nicht zuviel Gewicht auf eine Stelle legen
Auch in der Bibel selber kann man Gewichtungen feststellen. Manche Glaubensgrundsätze und Wahrheiten tauchen oft auf, andere selten. Besonders wichtige Dinge ziehen sich wie ein roter Faden von Anfang bis Ende durch. Es ist gefährlich, theologische Gebäude auf der Auslegung eines einzigen Verses aufzubauen.
Gesunde Lehre (2.Timotheus 4,3) baut sich nicht nur auf einer Erwähnung auf. Das, was Gott wichtig ist, wird man an mehreren Stellen in der Bibel finden.
Im Alten Testament wird ein sehr wichtiges Rechtsprinzip aufgestellt: auf der Aussage von zwei oder drei Zeugen soll jede Sache beruhen. (5.Mose 19,15). Dieses Prinzip wird vom Neuen Testament bestätigt: Matthäus 18,16 / 2.Korinther 13,1 / 1.Timotheus 5,19 / Hebräer 10,28. Vergleicht man diese Stellen miteinander fällt auf, dass sie einen Bedeutungswandel durchgemacht haben.
–> Im Mosebuch ging es um rein rechtliche Dinge, ebenso zitieren auch Jesus und der Hebräerbrief.
–> Paulus bezieht die Stelle im 2.Korintherbrief auf seinen dritten Besuch.
–> Im Brief an Timotheus geht es nicht mehr um Staatsrecht, sondern um Gemeindestreitigkeiten.

Das legt den Verdacht nahe, dass es sich bei dem Zeugenprinzip um ein sehr allgemeines Prinzip handelt, das sich auf alle möglichen Situationen anwenden lässt. Es wurde vorgeschlagen , dieses Prinzip auch hermeneutisch anzuwenden.(1) Ich finde das eine sehr gute Faustregel: für eine wichtige Sache lassen sich mehrere Textzeugen finden.
Unwichtige(re) Dinge werden eben nur selten erwähnt und lassen sich nicht immer klar auslegen.
Beispiele für unklare Nebenaspekte der Bibel:
• Die Riesen der Vorzeit (Nephilim): 1.Mose 6,4
• Asasel: 3.Mose 16,8.10.26
• Der Leviatan: Psalm 104,26 / Jesaja 27,1
• Totentaufe: 1.Korinther 15,29
• Der Grossteil der Offenbarung
Auf solche unklaren Aspekte der Schrift kann man keine Theologie aufbauen. Man kann darüber reden, predigen, nachdenken usw., aber es ist nicht ratsam, diese Stellen heranzuziehen, um „reine Lehre“ aus ihnen zu destillieren.

Eine Sonderrolle nehmen hier einige der prophetischen Texte des Alten Testaments und die Offenbarung des Johannes ein. Diese Texte sind zwar unklar, werden aber im Laufe der Zeit mit zunehmender Offenbarung Gottes klarer. Je weiter der Zeiger auf der Endzeituhr fortschreitet, umso eindeutiger und sicherer wird man jeden Teil der prophetischen Texte auslegen können.
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Anmerkungen:
(1) Uwe Schäfer: Die Theologie des Zimmermanns, Seite 33f

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19 Kommentare

  1. Nein, auch die Johannesoffenbarung nimmt hier keine Sonderrolle ein, auch wenn die Versuchung groß ist, die eigenen Wünsche nach Informationen über unsere Zukunft in diesen Text hineinzupressen, bis schließlich etwas herauskommt.

    Erstens ist es eine ebenso wichtige hermeneutische Regel, daß ein Text heute nichts anderes meint als das, was er in seiner Entstehungssituation gemeint hat. Das ist und bleibt die Bedeutung für die bedrängte Urgemeinde in ihrer ganz konkreten Situation. Etwas anderes ist die Anwendung eines Textes, die man zwar von seiner eigentlichen Bedeutung nicht trennen kann, wohl aber unterscheiden muß.

    Von daher wird man auch nicht sagen können, daß die Johannesoffenbarung mit fortschreitender Zeit immer eindeutiger uns sicherer ausgelegt werden kann. Das ist kompletter Humbug. Es gab schon zu allen Zeiten haarsträubend falsche Auslegungen dieses Buches wie auch angemessene. Das ist heute nicht anders und wird sich nicht ändern, bis Christus wiederkommt.

    Die Johannesoffenbarung ist heute wie damals ein Trost- und Ermutigungsbuch, kein Steinbruch für menschlich-allzumenschliche Neugierde. Letztere hätte Paulus mit Milch (1Kor 3,2) zu kurrieren versucht.

  2. Hallo!

    Ich hatte hier gestern einen Kommentar geschrieben, der moderiert werden sollte – ist aber (noch) nicht geschehen. Ist er angekommen?

    Gruß, Tobias

  3. Hallo Tobias,

    erstmal herzlich willkommen hier. ich konnte die kommentare nicht eher moderieren weil ich auf predigttour war und seit mittwoch nicht ins internet gekommen bin.

    was prophetische texte angeht haben wir wohl eine andere sicht. gott wollte mit der offb definitiv mehr sagen als johannes damals fassen konnte. das ist bei vielen texten so, dass sie mehr als eine ebene haben – die bedeutung die soe für den leser damals hatte und eine bedeutung, die sich im laufe der zeit entfaltet. viele sachen die jesus seinen jüngern sagte haben sie erst nach der auferstehung und pfingsten kapiert – gut, dass sie dann nicht als gute theologen nur das gelten liessen, was sie damals verstanden als jesus es sagte.
    so werden wir auch die offb in manchen kommenden zeiten anders lesen/verstehen/schätzen als heute.
    dass sie aber ein trostbuch ist ist klar. daran ändert sich auch nichts.

  4. Hallo Storch!

    Na, dann war es wohl doch ein unglücklicher Zufall – Artikel gelöscht! 😉 Fühl Dich bitte nicht persönlich angegriffen – da sind einige Dinge zusammengekommen, und ich habe Dir hier offensichtlich unrecht getan, entschuldige bitte!

    Ja, in Bezug auf prophetische Texte haben wir wohl in der Tat eine andere Sicht. Auf den Unterschied von Bedeutung und Anwendung habe ich ja schon hingewiesen – und der ist m.E. auch im Falle prophetischer Texte zu wahren.

    Man kann das nicht einfach mit dem Argument aushebeln, Jesus habe seinen Jüngern damals auch Dinge mitgeteilt, die diese erst nach Ostern und/oder Pfingsten verstehen konnten. Erstens läßt das den „Sitz im Leben“ außer acht, der bei der uns vorliegenden Endgestalt der Jesus-Worte in der nachösterlichen Gemeinde gelegen haben mag (womit ich ausdrücklich nicht behaupten will, solche Jesus Worte seien dadurch schon bloße „Gemeindebildungen“!). Und zweitens: wer sagt denn, daß die Jünger diese Aussagen vor Ostern und/oder Pfingsten überhaupt richtig verstanden haben? (Mit dem polemischen Hinweis auf die „guten Theologen“, die immer alles besser zu wissen meinen, erreichst Du in diesem Fall allenfalls eine Ablenkung von der Sache – oder bist Du nicht auch ein Theologe, der es hier besser zu wissen glaubt? Wäre dem nicht so, müßten wir nicht diskutieren.)

    Sprich: die Bedeutung solcher prophetischer Jesus-Worte mag in der Tat erst von Ostern und Pfingsten her erschlossen werden können; das heißt noch lange nicht, daß diese Jesus-Worte vor Ostern eine andere, weitere Bedeutung hatten – wohl aber hatten sie vor Ostern eine bestimmte Anwendung und eine Funktion.

    Die Anwendung ist offensichtlich – so bestand sie z.B. bei „den Juden“ im Falle von Joh 2,19 in einem Mißverständnis, nämlich in der Mißachtung der geistlichen Dimension des Wortes Jesu und seiner ‚Verweltlichung‘: „Dieser Tempel ist in sechsundvierzig Jahren erbaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten?“ (Joh 2,20).

    Die Funktion dieses Jesus-Wortes kann ebenfalls darin bestanden haben, daß es zunächst nicht und eben erst von Ostern her verstanden wird – ähnlich etwa wie im Falle des Messiasgeheimnisses bei Markus.

    Mit all dem sage ich ebenfalls ausdrücklich nicht, es könne so etwas wie Prophetie im Sinne einer echten Weissagung oder Zukunftsschau nicht geben – wie ja schon in Bezug auf Jesus-Worte oben zugestanden!

    Was ich mit meinem ersten Beitrag in Frage gestellt habe und hier nach wie vor in Frage stelle, ist erstens die m.E. leichtfertige Rede von mehreren Bedeutungen eines Textes. Die Theologiegeschichte, insbesondere die Betonung des Literalsinns eines Textes bei den Reformatoren etwa, könnte man sonst einfach übergehen und mit dem (schwärmerischen) Hinweis auf den Heiligen Geist als Interpreten der Schrift jede mögliche oder eben auch unmögliche Bedeutung an einen Text herantragen, wie es ja nun einmal im Laufe der letzten 2000 Jahren oft genug geschehen ist, und das in der Regel auch noch mit ‚bestem Wissen und Gewissen‘.

    Zweitens habe ich damit in Frage gestellt und tue das auch hier, daß es so etwas wie eine „eindeutiger[e] und sicherer[e]“ Auslegung prophetischer Texte im Laufe der Zeit gibt. Zum einen aus dem bereits genannten Grund, daß man Bedeutung und Anwendung eines Textes nicht einfach über einen Haufen werfen kann, zum anderen deswegen, weil eben dieser Lauf der Zeit so ziemlich genau das Gegenteil dessen bewiesen hat.

    Was haben nicht die Wiedertäufer der Reformationszeit in diesen prophetischen Texten zu entdecken geglaubt, was haben nicht im 18., 19. und vergangenen Jahrhundert die Pietistenväter an „sicheren“ Vorhersagen aus der Johannesoffenbarung gezogen etc. pp. Und natürlich hat jeder von ihnen geglaubt, damit der eigentlichen Bedeutung des jeweiligen Textes auf die Spur gekommen zu sein, so wie es heute auch immer wieder in manchen pfingstcharismatischen Strömungen und anderswo der Fall ist (wo man dann einige Jahre später kleinlaut und wesentlich weniger medienwirksam eingestehen muß, daß die einst großspurig und in „Vollmacht des Heiligen Geistes“ vorgetragene „Prophetie“ ein Irrtum war).

    Ich kann nicht nachvollziehen, was an der ursprünglichen Bedeutung etwa der Johannesoffenbarung so unspektakulär, irrelevant und marginal sein sollte, daß es uns Nachfolgern Jesu heute nicht noch zu tiefgreifenden geistlichen Einsichten verhelfen sollte. Was in seiner Bedeutung auf den Kaiser Domitian bezogen sein mag, hat in seiner Anwendung (!) auch Christen etwa im dritten Reich hinsichtliche eines Adolf Hitlers noch einiges gesagt, ohne daß man diesen Texten deshalb neue oder weitere Bedeutungen zugesprochen bzw. gemeint hätte, die Johannesoffenbarung jetzt „eindeutiger“ und „sicherer“ auslegen zu können (man lese nur einmal Predigten eines Helmut Thielicke aus dieser Zeit beispielsweise, um ein eindrucksvolles Zeugnis einer solchen Anwendung zu erhalten).

    Nein, man hat ganz nüchtern und einfach den Text so ausgelegt, wie er schon in seiner Ursprungssituation ausgelegt werden wollte – im Wissen darum, daß der Herr, der damals in diesem Text sprach, der selbe Herr ist, der auch heute noch in diesem Text spricht. Die eine und selbe Identität Jesu Christi damals und heute ist die Klammer, die diese Texte in ihrer Bedeutung einst wie jetzt zusammenhält – nicht vermeintliche, im Laufe der Zeit immer weiter zu eruierende weitere Bedeutungen dieser Texte.

    Das ändert nichts daran (im Gegenteil), daß Menschen kommender Zeiten die Johannesoffenbarung – zurecht! – anders lesen, verstehen (auch Verstehen ist ein Akt der Anwendung, nicht der Ermittlung einer neuen Bedeutung) und schätzen werden als wir heute oder Menschen damals – in dem Punkt sind wir uns einig.

    Summa summarum: das Plädoyer für den Literalsinn des Textes als seiner einen Bedeutung damals wie heute (für das es sowohl innerbiblische wie auch theologiegeschichtliche Gründe zuhauf gibt) ist nicht etwa ein Plädoyer für eine Armut in der Auslegung und im geistlichen Leben, keine unnötige Selbstbeschränkung unser selbst und Kastrierung dieser Texte – sondern im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit einer echten Wertschätzung dieser Texte und der Entfaltung ihres Reichtums, verbunden mit ihrer Bewahrung vor ihrer schleichenden Marginalisierung durch immer neue, weitere und andere Bedeutungen (- für die es ebenfalls haufenweise kirchengeschichtliche Belege gibt).

    Liebe Grüße und Gottes Segen,

    Tobias

  5. Hallo Tobias,
    mindestens im Verhältnis vom Alten zum Neuen Testament kann man aber doch beobachten, wie prophetische Texte erst später wirklich voll verstanden werden.
    Ein Beispiel:
    die Weissagungen zum Knecht Gottes bei Jesaja. Deren reiner Literalsinn ist heute, gelinde gesagt, doch ziemlich dunkel. Ich könnte mir vorstellen, dass er zum Zeitpunkt der ersten Formulierung zwar viel klarer war, aber dass diese Texte von Anfang an offen waren für vielfältige Deutungen. So ähnlich wie poetische Texte. Ohne die Kenntnis des realen Jesus würde aber trotzdem niemand darauf kommen. diese Texte so zu deuten, wie wir es heute tun (nämlich auf Kreuzigung und Auferstehung Jesu hin).
    Wenn du das jetzt nur als „Anwendung“ siehst, dann hast du einen ziemlich weiten Begriff von „Anwendung“, und dem könnte ich durchaus zustimmen. Aber normalerweise würde ich unter „Anwendung“ etwas Begrenzteres verstehen. Und ich würde auch die Deutung der Gottesknechtsweissagungen auf Jesus nicht als ihre „schleichende Marginalisierung durch immer neue, weitere und andere Bedeutungen“ sehen.
    Zweites Beispiel:
    wenn Paulus in Sara und Hagar ein Gleichnis für Gesetz und Evangelium sieht, dann erkennt er in der alten Geschichte etwas, was vom Literalsinn her eigentlich nicht naheliegt. Er betreibt eine Art symbolische Auslegung, die aber beim zweiten Hinschauen nicht gewaltsam ist, sondern tatsächlich etwas in dem Text entdeckt, was man im Zeitpunkt der ersten Formulierung der Geschichten so nicht gesehen hätte.
    Ok., zu Not könnte man das auch noch „Anwendung“ nennen, Aber worauf ich hinaus will: vielleicht gibt es ja gar keinen echten Gegensatz zwischen dem Modell „Literalsinn -> Anwendung“ und dem Modell „Zunehmende Klarheit der biblischen Texte“. Vielleicht bezeichnet ja beides den gleichen Prozess, in dem die durch Gott von Anfang an bedachte Bedeutungsvielfalt der Texte sich langsam entfaltet. Allerdings nicht so sehr im Fortschritt der theologischen Wissenschaft sondern mehr im Fortschritt der Geschichte Gottes mit der Welt (in der natürlich auch die Theologie ihre begrenzte Rolle hat).
    Und nicht zu vergessen: für beide Modelle braucht man den Heiligen Geist, der nicht durch eine saubere hermeneutische Methode ersetzbar ist. Bei beiden Modellen kann man groteske Fehlergebnisse produzieren, und leider Gottes geschieht das wahrlich oft genug. In der skeptischenBeurteilung der meisten Endzeitprognosen stimme ich dir voll zu.
    Aber man kann solche Fehlergebnisse letzlich nicht durch eine saubere Methode ausschließen, sondern hier ist entscheidend die geistliche Gabe des Urteilens gefragt. Ein geistliches Gespür für das, was zu Gott passt und was nicht. Und Menschen mit dieser Gabe kommen in der Regel mit allen möglichen Methoden zu einem guten Ergebnis. Methoden sind (bessere oder schlechtere) Handwerkszeuge, sie ersparen es uns nicht, mit vollem Irrtumsrisiko zu unseren verantwortlichen Entscheidungen zu stehen.
    Ich gebe zu, dass ich dies „nur“ von zwei innerbiblische Parallelen her entwickelt habe. Aber sollte für uns nicht die Hermeneutik, die wir im Verhältnis des Neuen zum Alten Testament beobachten können, ein wichtiger Maßstab sein?

  6. hallo Walter, herzlich willkommen hier.

    Beim Lesen von TLs Kommentar dachte ich was ähnliches. Letztlich scheinen wir nicht so weit voneinander entfernt zu sein, definieren aber anders. Was für TL „Anwendung“ ist, ist für mich (zumindest teilweise) schon das, was der Autor des Textes sagen wollte. Ich denke da mehr von der göttlichen Autorenschaft aus as von der menschlichen und so gehe ich davon aus, dass Gott in die Prophetentexte Sachen eingebaut hat, die vom ursprünglichen Verständnis her nicht enthalten sein können.
    Dieser Sinn entfaltet sich mit dem Verlauf der Geschichte. zwei Beispiele dazu:
    (1) die grosse Danielprophetie war für ihn in ihrer Erfüllung nicht zu begreifen. Er hat was gesehen, was lange nach ihm passieren würde und er hätte darüber philosophieren können, aber die Bedeutung ist erst im nachhinein zu verstehen.
    (2) um nur mal zwei eschatologische Stömungen zu nennen: die einen glauben, dass die Entrückung vor der Drangsal kommt, die anderen, dass sie erst nachher kommt. Wenn die Eckdaten stimmen (also: es gibt eine Entrückung und eine Drangsal), dann wird die Zeit zeigen, welche Auslegung stimmt. Einstweilen beharken sie sich gegenseitig mit Argumenten, die sie alle aus der Schrift ziehen. Wenn es so weit ist, wird man wissen, was gemeint ist.

    Aber noch ein viel gravierendes Beispiel: keine der Stellen aus denen wir heute die Lehre der Dreieinigkeit ableiten muss man vom Literarsinn genau so verstanden haben; schon gar nicht die im AT. Aber weil man sich durch Offenbarung auf die Dreienigkeit „geeinigt“ hat, findet man sie auf einmal auch im AT. Das kann man dann als „Anwendung“ bezeichnen, aber ich meine, dass Gott damals schon einen Einblick in etwas gewährt hat, dass erst später ganz klar wurde und dass diese Wahrheit so schon direkt in den Texten enthalten ist.

  7. Ich verstehe Anwendung in der Tat in diesem weiten Sinne und denke eigentlich, daß das so auch erstens landläufig und zweitens dem Sachverhalt angemessen ist:

    So muß man den sehr freien Umgang etwa eines Paulus mit Texten des Alten Testaments wohl ebenfalls durchaus als Anwendung bezeichnen. Selbst die Theologie einer kanonischen Schriftauslegung hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder gezeigt, daß es den Autoren des Neuen Testaments nicht darum geht, den Texten des Alten Testaments einen Sinn zuzuschreiben, den diese ursprünglich nicht hatten – sondern entweder darum, ihren eigentlichen (!), schon damals geltenden Sinn sichtbar zu machen, oder aber überliefertes Traditionsgut in neue Zusammenhänge zu stellen (was im Falle der häufigen Typologien und Allegoresen bei Paulus am augenfälligsten ist), was aber am Sinn der derart verwendeten Schriftstellen an sich nichts ändert. Kann oder muß man einen solchen Umgang mit überlieferten Texten, wie gesagt, als Anwendung bezeichnen, so besteht ein gewichtiger Unterschied zwischen einem Paulus damals und uns heute darin, daß die Paulinen kanonisch sind – wir und unsere Auslegungen nicht. Schon von daher würde ich ein Fragezeichen setzen wollen vor die Behauptung, es sei legitim, einem Text mehrere und immer neue Bedeutungen zuzuschreiben – um nicht zu sagen, daß ich das für verfehlt halte. Darüber hinaus muß man beachten, daß Paulus nicht nur aus der Thora zitiert, sondern auch aus Quellen, die zu seiner Lebenszeit noch gar keine kanonische Geltung hatten, so daß hier schon grundsätzlich eine noch größere Freiheit im Umgang mit ihnen gegeben war. In jedem Fall wird man aber sagen können, daß Paulus um den Unterschied von Textbedeutung einerseits und der aktualisierenden Anwendung eines Textes andererseits gewußt hat.

    Was einzelne Passagen biblischer Prophetie angeht, die man für noch unerfüllt halten mag: die Rede davon, mit fortschreitender Zeit werde sich das schon erledigen und die Auslegung solcher Passagen daher immer sicherer und eindeutiger, bleibt – in menschlicher Perspektive – nichts weiter als eine Behauptung. Die grandiosesten Falschauslegungen haben davon gelebt, daß sie den „kairos“ zu erkennen glaubten, aus dem heraus sie die Bedeutung eines prophetischen Textes zu ermitteln suchten. Was geschah? Die Zeit lief einfach weiter – und es stellte sich heraus, daß das, was man als Zeichen der Erfüllung göttlicher Prophetie hielt, in Wirklichkeit ein Trugschluß war. Wer nun garantiert heutigen Auslegern, daß sie die Zeichen der Zeit so sicher erkennen können, daß sie den Sinn ‚unerledigter‘ Prophetien eindeutiger als zuvor ermitteln und verstehen können? Der Heilige Geist? Damit befände man sich– wie die Geschichte dieser grandiosen Falschauslegungen zeigt – in bester Gesellschaft. Was Vorhersagen über die Zukunft betrifft (worauf sich Prophetie keineswegs beschränkt – das ist ja überhaupt nur ein kleiner Teil dessen, was in der Bibel als Prophetie bezeichnet wird), so könnten wir nur dann eine sicherere und eindeutigere Auslegung solcher Prophetie erreichen, wenn wir den kompletten Überblick über den genauen Verlauf der vor uns liegenden Zeit hätten. Haben wir aber nicht. Eben deshalb hat man schon früh auf die notwendige Unterscheidung zwischen Gottes Heilswillen und seinem Geschichtswillen hingewiesen, wobei ersterer in Christus ein- für allemal bekannt ist, letzterer oftmals verborgen bleibt – die früheste Form dieser Unterscheidung ist wiederum schon bei Paulus angelegt, wenn er z.B. unsere Existenz als Existenz des Glaubens, nicht als Existenz des Schauens bezeichnet. Damit ist nichts gegen den Wahrheitsgehalt dieser Prophetien gesagt – wohl aber gegen einen impliziten Fortschrittsgedanken in Sachen Auslegung. Auch Auslegung von Prophetie ist und bleibt Stückwerk – und das meint in der Sprache des Paulus nicht ein Puzzlespiel.

    Damit ist bereits angedeutet, daß die Unterscheidung vom Sinn eines Textes einerseits und seiner Anwendung andererseits nicht etwa eine überflüssige Frage der Terminologie und damit ein Streit um des Kaisers Bart ist. Keine Frage – die Bibel ist durch eine Methode nicht in den Griff zu bekommen. Keine Frage – wir brauchen für das Verstehen der Bibel den Heiligen Geist.

    Gerade bei diesem Verstehen aber hat beispielsweise Martin Luther sehr zurecht auf den Unterschied des Literalsinns der Schrift und dem Verstehen desselben hingewiesen. So ist „Verstehen“ eben nicht etwa die bloße Zurkenntnisnahme des Literalsinnes. Vielmehr bedeutet Verstehen das Begreifen, daß das, was der Text sagt (! – „claritas externa“, die äußere Klarheit), mir gesagt ist (das ist die geistgewirkte „claritas interna“, die innere Klarheit). Was der Text aber „an sich“ sagt (claritas externa), wird keineswegs erst mit Hilfe des Heiligen Geistes eruiert, sondern schlicht und einfach mit Hilfe historischer und philologischer Arbeit. Wäre dem nicht so, bedürfte es überhaupt keiner Bibelübersetzung mehr, keiner Exegese mehr, keiner Schrift mehr überhaupt – der Heilige Geist alleine würde dafür sorgen, daß uns mitgeteilt wird, was wir wissen sollen, und daß wir verstehen, was wir verstehen sollen. Genau das war letztlich auch der Streitpunkt zwischen Reformatoren und Wiedertäufern, bei denen die Reformatoren nicht müde wurden, darauf hinzuweisen, daß der Heilige Geist zwar sehr wohl weht, wo er will – daß er es aber eben wollte, sich an das äußere Wort der Schrift zu binden! Dieser Hinweis auf die Selbstbindung des Heiligen Geistes an das Wort wäre vollkommen überflüssig, weil sinnlos, wenn ein Text an sich ohnehin viele verschiedene Bedeutungen haben könnte und es nur des Zeugnisses des Heiligen Geistes bedürfte, den jeweils aktuellen Sinngehalt zu ermitteln und zu verstehen. Man hätte nicht langwierig versuchen müssen, einen autoritativen Kanon festzulegen bzw. herauszufinden, welche Texte als kanonisch zu gelten haben und welche nicht, wenn ein einzelner Text ohnehin mal dies und das nächste Mal das bedeuten kann. Gäbe es keinen eindeutigen Literalsinn, den es festzuhalten gilt, so gäbe es auch kein Korrektiv für Schwärmerei und falsche Prophetie.

    Ich nehme an, daß Ihr bei der Rede von mehreren Bedeutungen eines Textes durchaus davon ausgeht, daß diese niemals im Widerspruch zueinander stehen dürfen oder gar können. Nur: einen Widerspruch kann man erst dann konstatieren, wenn es bereits eine eindeutige Aussage gibt, sprich: der Literalsinn eines Textes bekannt ist. Das kann man auch nicht mit dem Verweis auf „dunkle Schriftstellen“ aushebeln. Solche Schriftstellen sind die Ausnahme, die die Regel bestätigt – weshalb ich erneut auf Luther verweise, der solchen dunklen Schriftstellen damit begegnete, daß sie zu verstehen entweder nicht heilsnotwendig sei, oder aber daß sie unter Zuhilfenahme der klaren Schriftaussagen erklärt werden könnten.

    Zusammenfassend und zugespitzt daher noch einmal: hätten biblische Texte nicht einen eindeutigen Literalsinn (das gilt auch für Texte, deren literarische Gestalt sie selbst als Allegorie ausweist – in dem Fall geben solche Texte ja ihren ‚eindeutig zweideutigen‘ Sinn preis), den es zu beachten gilt, könnten wir auf die Schrift insgesamt verzichten.

    Was der Hinweis auf die Trinitätslehre in diesem Zusammenhang besagen soll, wird mir nicht ganz klar. Die Trinitätslehre ist nicht als Offenbarung im Sinne einer plötzlichen Erleuchtung vom Himmel gefallen. Wenn man sich mit den kirchengeschichtlichen Entwicklungen, die schließlich im Konzil von Konstantinopel mündeten, auch nur einigermaßen auskennt, wird man doch sehen müssen, daß es sich hier nicht um eine „neue Offenbarung“ handelte, sondern um das letztlich erfolgreiche, langwierige Ringen darum, das Zeugnis des Neuen Testaments hinsichtlich der Beziehung von Vater, Sohn und Heiligem Geist auf eine dogmatische Formel zu bringen, die zu diesem Zeitpunkt angesichts verschiedener Häresien notwendig war (das Wort „Häresie“ weist ja bereits darauf hin, daß diese Beziehung zu diesem Zeitpunkt keineswegs völlig unklar gewesen wäre, sondern einfach noch nicht sprachlich-dogmatisch prägnant gefaßt)! Das Trinitätsdogma hätte sich nicht durchsetzen können, wenn es keine Anhaltspunkte in biblischen Aussagen gehabt hätte, die immerhin so eindeutig waren, daß sie sich in ihrer Gesamtschau (!) auf eine solche dogmatische Formel bringen ließen. Sprich: das Trinitätsdogma wäre ohne einen angenommenen einigermaßen klaren Literalsinn der fraglichen Schriftstellen erstens nicht möglich und zweitens vermutlich auch nicht nötig gewesen.

    Daß man vom Neuen Testament her Christus dann auch im Alten Testament entdecken kann (im Sinne einer christologischen Aneignung alttestamentlicher Texte), ist damit nicht bestritten, genauso wenig wie die Möglichkeit, daß dieses Entdecken Christi im Alten Testament nicht schon in Gottes ewigem Willen beschlossen gewesen wäre. Bestritten ist damit lediglich, daß man – um bei diesem Beispiel zu bleiben – Schriftstellen im Alten Testament diesen Sinn als ihren eigentlichen unterstellen kann. Das würde m.E. bedeuten, die langwierige Schriftwerdung der Botschaft des Alten und Neuen Testaments und den Umstand einer Geschichte (Ge-Schichte!) Gottes mit den Menschen außer acht zu lassen, was man ganz einfach z.B. daran verdeutlichen kann, daß sich zwar einige alttestamentliche Texte – wie etwa bei Jesaja hinsichtlich der Rede vom Gottesknecht – ganz vorzüglich für so eine christologische Aneignung anbieten, andere Stellen im selben Textzusammenhang aber praktisch als unvereinbar oder doch als nur sehr, sehr schwer in Einklang mit der Gestalt Christi zu bringen erscheinen.

  8. PS: Ich hoffe, bei diesem definitiv zu lange geratenen Text 😉 blickt Ihr noch durch, auf welche Eurer Beiträge ich jeweils eingehe … Sorry dafür …

    Ich glaube, wir liegen im Prinzip nicht so weit auseinander, vor allem mit Deinen Ausführungen, Walter, habe ich nur wenige Probleme – abgesehen von der Frage, ob die Aufnahme alttestamentlicher Traditionen bei Paulus nun die Zufügung eines weiteren Sinns bedeutet oder die christologische Aneignung dieser Traditionen (siehe dazu v.a. meinen letzten Absatz zum Gottesknecht).

    Bei storchs Ausführungen habe ich ein paar Bedenken mehr, wenngleich ich davon ausgehe, daß wir uns letzten Endes in den wesentlichen Glaubenspunkten wieder treffen würden.

    Schon jetzt: vielen Dank für diesen interessanten Gedankenaustausch!

    Gottes Segen und Gruß,

    Tobias

  9. Hallo Tobias,
    war echt etwas lang … brauchte ein bisschen Zeit zum Nachdenken.
    Ich glaube, der springende Punkt ist das Vertrauen in die objektive Funktion der Exegese. Ich habe lange genug Exegese betrieben, um daran meine Zweifel zu haben. Fast überall gibt es in der Literatur zu jeder Frage einen Haufen sich widerstreitender Meinungen, und zwar nicht nur an einigen „dunklen“ Stellen, sondern grundsätzlich. Aber am Ende sollst du dann selbst eine exegetische Entscheidung treffen, d.h. raten oder nach der nach deinem Eindruck wahrscheinlichsten Lösung schauen.
    Ich halte die Exegese für ein sehr hilfreiches Werkzeug, aber dass dabei mit einer gewissen Objektivität der ursprünglich gemeinte Sinn des Textes zu erheben sei, ist eine Wunschvorstellung. Gerade im praktischen Umgang mit der Exegese merkst du, dass man es immer auch noch ganz anders sehen könnte, oder ahnst, dass Paulus oder Jesaja noch Dimensionen im Blick haben, die du nur ahnen kannst.
    Und wer sich die Geschichte der Exegese anschaut, der merkt, dass die ebenso zeitbedingt und schwankend und weltanschauungsabhängig ist wie die Geschichte der Deutung von Endzeitweissagungen.
    Letztlich ist Exegese auch nur eine Konvention, die den Spielraum der Interpretation begrenzt und es uns damit abnimmt, jedes Mal alles neu überlegen zu müssen. Aber das heißt nicht, dass Exegese schlecht oder überflüssig wäre.
    „Was der Text aber “an sich” sagt (claritas externa), wird keineswegs erst mit Hilfe des Heiligen Geistes eruiert, sondern schlicht und einfach mit Hilfe historischer und philologischer Arbeit.“ – das halte ich für recht optimistisch.
    Versteh mich recht: es geht mir nicht um willkürlichen Umgang mit dem Text. Wir müssen nicht zwischen dem Vertrauen in die Objektivität von hist.-phil. Arbeit (die ein Baustein bleibt) und der Willkür wählen – es gibt auch noch andere Möglichkeiten.
    Der eigentliche Punkt ist: du kommst an keinem Punkt zu einer Objektivität, die von deiner Subjektivität unabhängig wäre. Das Exeget steht prinzipiell nicht auf sichererem Grund als der Schwärmer, sondern er ist nur mit anderen Leuten in einem (vielleicht breiteren) Konsens. Das ist aber nichts Schlimmes, außer wenn er es nicht zugibt.
    Bei dieser scheinbaren Paradoxie hat es mit immer sehr geholfen, dass auch Luther diese subjektive Grundierung auf seinem Sterbebett sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hat: „Den Vergil in seinen Buccolica und Georgica kann niemand verstehen, als wer 50 Jahre Hirte oder Bauer gewesen ist. Den Cicero in seinen Briefen versteht niemand, als wer 20 Jahre im Leben eines großen Staates mitgetan hat. Die Heilige Schrift meine niemand genügend gekostet zu haben, als wer 100 Jahre mit den Propheten ecclesias gubernarit und für die Kirche verantwortlich gewesen ist.“ (zit. nach Karl Barth, Prot. Th. im 19. Jhdt.)
    Das Verstehen ist von der Subjektivität des Interpreten abhängig, und zwar schon die Exegese. Denn natürlich fließen in die Methode und den Gebrauch der Exegese meine theologischen Vorgaben (oder die meiner exegetischen Lehrer oder der theologischen Gemeinschaft) und meine Vorerfahrungen ein. Man kann die Auslegung nicht teilen in einen grundsätzlich objektiven Teil und dann einen subjektiven Teil (die Anwendung). Es sind sicherlich in gewissem Maße unterschiedliche Arten des Zugangs, aber der Gefahr des (systembedingten) Irrtums entkommst du auf keine der beiden Weisen.

  10. Hallo Walter!

    Ich glaube, wir kommen da auf keinen grünen Zweig.

    Ich habe nirgendwo davon gesprochen, daß Exegese eine objektive Funktion im Sinne einer Losgelöstheit von den menschlichen Bedingungen hätte. Ich bin Theologe genug, um zu wissen, daß auch Exegese immer ein „schuldhaftes“ Unterfangen sein kann und wird, um es einmal mit Thielicke zu sagen.

    Das entlastet einen aber erstens – wie Du ja selbst. leider nicht ganz kohärent zu Deinen sonstigen Aussagen (was sind denn die „andere[n] Möglichkeiten“?) – nicht davon, Exegese zu betreiben, und zweitens nicht davon, seine Hermeneutik zu reflektieren. Gerade *weil* es in der Geschichte der Exegese immer wieder zu massiven Irrtümern gekommen ist, ist eine solche Reflexion unabdingbar.

    Ich habe etwas dagegegen, 2000 Jahre christlicher Theologiegeschichte einfach über einen Kamm zu scheren und die grundsätzlichen Schwierigkeiten, mit denen menschliche Auslegung verbunden ist, als Argument für eine generelle Aporie anzuführen. Ich habe etwas dagegen, Bibelstellen mit dunklem Sinn als Argument für eine angebliche generelle Dunkelheit der Bibel in ihrer Gesamtaussage heranzuziehen.

    Noch einmal: Verstehen funktioniert nicht ohne den Heiligen Geist. Damit meine ich das Verstehen der „claritas interna“. Aber Sprache an sich hat nun einmal die Funktion der Verständigung – und der Mensch wäre grundsätzlich nicht verständigungsfähig, wenn die Sprache so ambivalent wäre, daß man sie gar nicht mehr verwenden müßte, weil sie ja ohnehin nicht richtig gedeutet werden kann.

    Es gibt Hermeneutiken genug, die gerade die Gebundenheit des Menschen an seine weltanschaulichen Voraussetzungen zum Thema gemacht haben und von daher sehr fruchtbar gewesen sind, ohne „fruchtbar“ gleich im Sinne einer Multiplikation von Sinngehalten zu verstehen. Es gäbe keine Kirchenleitung ohne *einigermaßen* funktionierende Exegese. Es gäbe keine Übersetzung der biblischen Texte ohne *einigermaßen* funktionierende Philologie. Ich weiß, der Heilige Geist … Nur: der Heilige Geist sollte nicht als Lückenbüßer herhalten müssen, weil Menschen gar nicht erst das Wagnis eingehen wollen, Auslegung zu betreiben. Daß menschliche Arbeit und das Vertrauen auf den Heiligen Geist zusammengehören, sollte damit klar geworden sein.

    Noch einmal: wer davon ausgeht, die Aussageabsicht eines Textes könne mit den Hilfsmitteln der Exegese *grundsätzlich* nicht *annähernd* richtig ermittelt werden und von daher einer generellen Variabilität biblischer Aussagen das Wort redet, der sollte ehrlicherweise auf die Bibel verzichten, weil er sich nicht dem Wagnis aussetzen will, das damit gegeben ist, daß Gott Mensch geworden ist und sich so in die Ambivalenzen der Geschichte begeben hat. Wer allen Ernstes so denkt, braucht eigentlich auch keine Sprache überhaupt mehr. Die Tatsache, daß Du an dieser Diskussion teilnimmst, sagt mir allerdings, daß Du durchaus noch so etwas wie ein gewisses Zutrauen zu menschlicher Sprache hast. 😉

    Solche Exegese entlastet auch keineswegs davon, daß man die Bibel nicht nur einmal, sondern ständig und immer wieder neu lesen sollte. Bei Luther war das eben gerade *kein* Widerspruch, wie ein Blick auf sein Gesamtwerk schnell erkennen läßt.

  11. Nochmal @Walter:

    Sorry, der zweite Absatz war etwas verstümmelt: „Das entlastet einen aber erstens – wie Du ja selbst, leider nicht ganz kohärent zu Deinen sonstigen Aussagen (was sind denn die “andere[n] Möglichkeiten”?), sagst – nicht davon, Exegese zu betreiben, …“

    Ein Blick auf Dein Blog sagt mir, daß Du Pastor bist – dann mal raus mit der Sprache: wie hältst Du es denn mit Deiner Predigtvorbereitung und mit einer verantwortlichen Auslegung? Ich meine das ganz konkret – ich gehe nicht davon aus, daß Du ausschließlich darauf vertraust, daß der Heilige Geist Dir den Predigttext schon erschließen wird, sondern daß Du durchaus auch Deine Art der „Vorarbeit“ haben wirst. Wie sieht die aus, wenn Du so etwas wie einen „Literalsinn“ eines Textes gar nicht mehr in Betracht ziehst?

  12. na gut, aber das sehen wir doch alle so, oder? walter ging es ja nur um einen objektivitätsanspruch der exegese, den sie so nicht hat. ich muss da auch selber sagen, dass ich nicht an objektivitätsansrüche irgendeiner form glaube. es gibt zwar das objektive, aber es wird von subjekten wahrgenommen und wird damit durch unsere erkenntnis wieder subjektiviert. aber darin stimmen wir wohl überein, oder?

    mir ist in diesem ganzen kontext ein vers aus dem AT wichtig:

    Gottes Ehre ist es, eine Sache zu verhüllen, des Königs Ehre ist es, eine Sache zu erforschen. (Sprüche 25,2)

    Ich meine, dass das eine gute Sichtweise ist: Gott versteckt in seinem Wort etwas für uns, das wir entdecken dürfen. Ich habe selten etwas durch reine Exegese entdeckt (ist auch vorgekommen, aber selten). Meistens ist es so, dass mein Leben mit Gott mir auf einmal eine Passage der Bibel aufschliesst und ich denke „ah, so hat Paulus das gemeint“. Das bringt ein viel tieferes Verständnis der Wortes, weil es eben Erfahrung dessen schenkt, was Gott gesagt hat.

    sorry, ich komme immer nur kurz zum schreiben, habe gerade viel zu tun.

  13. Wir sind uns mit Sicherheit einig darin, daß die Exegese einen solchen Objektivitätsanspruch *so* nicht hat. Aber wenn ich Eure bisherige Argumentation konsequent weiterdenke, komme ich an den Punkt, wo ich Exegese aufgrund des grundsätzlichen Mißtrauens in menschliche Auslegungsarbeit auch grundsätzlich verwerfen müßte – statt dieses Mißtrauen als hermeneutisches Korrektiv zu in diese Auslegungsarbeit zu integrieren!

    Deshalb ja auch die Nachfrage an Walter, wie denn seine Predigtvorbereitung in Blick auif selbst zu leistende Arbeit aussieht – die gleiche Frage könnte ich auch Dir stellen. Und ich gehe stark davon aus, daß Eure konkrete Auslegungsarbeit dann eben doch wenigstens ein gewisses Zutrauen in menschliche Verstehensmöglichkeiten – in gewissen Grenzen – aufweist. So weit so gut.

    Was Du in Deinem zweiten Absatz schreibst, ist letztlich genau die lutherische Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Klarheit der Heiligen Schrift. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, daß ich durch reine Exegese noch nie etwas entdeckt habe – jedenfalls nicht in dem Sinne entdeckt, daß mir diese bloße intellektuelle Erkenntnis existenziell etwas von echtem Wert erschlossen hätte. Jeder Erschließungsprozess, der das „äußere Wort“ so einsichtig macht, daß es in meinem Leben etwas von solchem echten, dauerhaften Wert bewirkt, ist meines Erachtens geistgewirkt.

    Mir geht es darum, die zwei Seiten von Auslegung präzise zu differenzieren: die historische und philologische Arbeit einerseits und das von Gott geschenkte Verstehen andererseits. Wo ich mir dieser zwei Seiten nicht mehr bewußt bin, öffne ich einem Mißbrauch der Bibel Tor und Tür: da kann so ein „ah, so hat Paulus das gemeint“ schnell einmal das Resultat einer problematischen Exegese verbunden mit dem Gefühl, Gott habe diese Passage aufgeschlossen, sein – sprich: göttlich legitimiert, tatsächlich aber nichts weiter als ein menschlich-allzumenschlicher Kurzschluß. Ich werfe Dir das nicht vor – ich sage nur, daß es genau so immer und immer wieder geschieht und geschehen ist.

    Auch die scheinbare Offenbarung einer Sache durch Gott muß für uns anhand der Bibel überprüfbar sein, sonst könnten und müßten wir uns konsequent von der Heiligen Schrift verabschieden. Daß so eine Überprüfung ein Prozeß ist, den man nicht einmal durchläuft und dann in der Tasche hat, sondern den man lebenslänglich anwenden muß und der immer auch auf die Gnade Gottes angewiesen ist, spricht doch nicht gegen die Notwendigkeit dieses Prozesses!

  14. vielleicht ist das der punkt an dem wir auseinandergehen: wir denken es vielleicht nicht konsequent weiter. warum auch, es ist ja nur ein weg, den man nicht ganz zuende geht.
    ich kenne walter nur aus dem internet, aber ich bin sicher, dass er entsprechende fachbücher zuhause hat und sie auch liest. bei mir ist das auch so, wir reden ja gar nicht gegen exegese sondern betreiben sie auch.
    mir ist die exegese allerdings nicht so wichtig wie manch anderem. das mag daran liegen, dass mich die anwendung der bibel mehr interessiert als andere aspekte; ich bin schliesslich pastor und kein bibelwissenschaftler. von der anwendung her ist ja nun wirklich vieles einfach und die frage „was will gott damit sagen?“ ist für mich die wichtigste in der predigtvorbereitung. der kittel steht zwar neben mir, aber ich benutze ihn bei weitem nicht für jede predigtvorbereitung. dasselbe gilt für kommentare und andere fachbücher

    ich weiss auch gar nicht, von was für fällen du sprichst. es gibt natürlich manchmal sehr willkürliche auslegungen und beliebigen umgang mit der schrift, aber das ist wohl in jedem theologischen lager eher die ausnahme als die regel. hast du mal irgendein beispiel dafür, dass ein prediger oder eine bewegung sich gar nicht mehr für literarsinn interessiert und nur noch „pneumatisch“ arbeitet und dabei zu hauptsächlich untragbaren schlüssen kommt?

  15. Nun, diese Diskussion hatte sich ja an Deiner Aussage entzündet, man könne prophetische Texte mit fortschreitender Zeit immer „sicherer und eindeutiger“ auslegen.

    Dagegen habe ich den Literalsinn von Texten in Erinnerung gerufen – im Wissen darum, daß die Vernachlässigung dieses Literalsinnes die abenteuerlichsten Blüten getrieben hat und treibt. Gott sei Dank herrscht in unseren Kirchen überwiegend noch so viel Augenmaß, daß theologische Richtungen, bei denen solche Blüten nicht einfach die Ausnahme, sondern immer häufiger sind, bald als Sondergruppierungen, Sekten etc. gekennzeichnet werden.

    Nur als Erinnerung: die Zeugen Jehovas z.B. sind genau dadurch entstanden, daß sie den Litalsinn einiger weniger Stellen vernachläßigt haben, für abenteuerliche Endzeitspekulationen mißbraucht haben und in Folge die so entstandene „theokratische leitende Körperschaft“ de facto die Interpretationshoheit über die Bibel gewann, statt sich umgekehrt von der Bibel in Fage stellen zu lassen.

    Gäbe es nicht das Korrektiv einer historischen und philologischen Auslegung, gäbe es letztlich auch kein Kriterium für die Schriftgemäßheit einer bestimmten theologischen Richtung. Auch maßgebliche Bekenntnistexte könnte man dann nicht mehr als Kriterium anführen, weil wiederum deren Schriftgemäßheit fraglich wäre.

    Sprich: unter anderem das Herausstellen des Literalsinnes biblischer Texte hat in der Vergangenheit dafür gesorgt und sorgt auch heute dafür, daß sich solche theologischen Richtungen nicht kirchlich etablieren konnten und können!

    Und wenn ich mir so manche pfingstlich geprägte Bewegung ansehe, dann muß ich nicht lange suchen um zu sehen, daß hier der (angeblichen?) Geisterfahrung Vorrang vor dem Zeugnis der Heiligen Schrift gegeben wird. Und das sage ich nicht als „Pfingstophobiker“, sondern als jemand, der das grundsätzliche Anliegen der Pfingstbewegung durchaus zu schätzen weiß.

    Daß Du als Pastor nicht für jede Deiner Predigten erst einmal eine Exegese nach allen Regeln der Kunst durchführst, ist ja Dein gutes Recht und nur verständlich. Ich fordere ja auch gar nicht, daß man so etwas in Personalunion vereinen muß – ich weise nur auf die grundsätzliche Notwendigkeit einer sauberen Exegese in der Kirche hin (sprich: ich verstehe Theologie als Funktion der Kirche), die Pastoren davon entlastet, jede Predigt auf Strich und Komma exegetisch begründen zu müssen, weil sie immer wieder auf einen bereits vorhandenen Fundus solcher Exegese zurückgreifen können und das oftmals sogar unbewußt, quasi automatisch tun.

  16. das letzte gefällt mir sehr gut; so würde ich es auch bei mir verstehen: ich greife zurück und habe natürlich vieles gespeichert, das ich unbewusst nutze.

  17. Oh, hier ist ja was los!
    Also, ich glaube die Sache wird klarer: Es geht letztlich um die Frage der (gute Formulierung, Tobias!) „Interpretationshoheit“ über die Bibel. Wer die hat, hat in seiner Fraktion der Christenheit in der Regel gewonnen.
    Interpretationshoheit gibt es dann, wenn es einem gelingt, die eigene Interpretation als Interpretation unkenntlich zu machen und stattdessen als das, was „die Bibel in Wahrheit sagt“ durchzusetzen. Auf jeden Fall muss man dabei unterstellen, dass sich auf irgendeine Weise der „wirkliche“ Sinn der Bibel feststellen lässt und dass man selbst (durch den Heiligen Geist, durch saubere exegetische Methodologie, durch Tradition oder wie auch immer) den Schlüssel dazu hat.
    An diesem Punkt sind sich Schwärmer und Exegeten überraschend einig: der von mir erhobene Sinn der Schrift ist keine Interpretation, sondern die Meinung der Bibel selbst (und die Exegeten fügen hinzu: jedenfalls grundsätzlich, auch wenn ich mich im Einzelfall irre)!
    In der protestantischen Fraktion der Christenheit ist die Interpretationshoheit schwerpunktmäßig bei der Universitätstheologie, insbesondere der Exegese, gelandet. Und wie du richtig beschreibst, sorgt das dafür, dass alle theologischen Richtungen, die sich dieser Methodologie nicht unterwerfen, das Etikett der Unseriosität aufgedrückt bekommen.
    Ich wehre mich aber dagegen, mir dauernd die Alternative aufdrücken zu lassen: wissenschaftliche Exegese oder Zeugen Jehovas. Das sind nicht die einzigen Möglichkeiten des Verstehens. Ich sehe zB im Verhältnis des Neuen zum Alten Testament nicht diesen Zweischritt von objektivem „Literalsinn“ und subjektiver „Anwendung“, und trotzdem keine Willkür.
    Ich bestreite, dass überhaupt jemand die Interpretationshoheit über die Bibel hat. Ich schätze die exegetischen Methoden, sie sind oft hilfreich, ich gebrauche sie in der Predigtvorbereitung (ja, ja!), aber ich verweigere ihnen die Interpretationshoheit.
    In der Tat hat das Folgen. Wie du richtig schreibst, müsste dann zB Kirchenleitung eine ganz andere Gestalt haben. Du hast Recht: wenn niemand mehr die Deutungshoheit über die Bibel beanspruchen kann, muss sich vieles ändern, in vielen Fraktionen der Christenheit.

  18. Ich würde ebenfalls bestreiten, daß es so etwas wie eine Interpretationshoheit über die Bibel geben darf – ich gehe davon aus, daß Gott selbst seinem Wort Hörer verschafft. Aber noch einmal – ich sehe nicht, daß wir deshalb hermeneutische Einsichten außer acht lassen könnten und jede Form von Exegese ein letztlich sinnloses Unterfangen wäre. Es gibt auch so etwas wie eine „Hermeneutik der Demut“ (ohne mit dieser Begrifflichkeit ausschließlich auf den Ansatz von Heinzpeter Hempelmann anzuspielen, wennglich ich diesem doch recht nahe stehe).

    Du sagst ja selbst, daß Du die exegetischen Methoden schätzt – offensichtlich muß also etwas ‚dran‘ sein, und ich gehe davon aus, daß man das auch kommunikabel machen kann. An dieser Stelle sehe ich im übrigen auch bedeutende Unterschiede zwischen einer schwärmerischen ‚Exegese‘ (Eisegese) und einer wenigstens einigermaßen methodologisch reflektierten Auslegung. Letztere kann im Optimalfall ja durchaus die grundsätzliche Möglichkeit einer Kritik der eigenen Methode enthalten. So hat man ‚historisch-kritisch‘ auch einmal so verstanden, daß dabei das *eigene* Vorurteil der Kritik unterzogen wird, nicht das Zeugnis der Bibel. Davon ist angesischts einer sich selbst beweihräuchernden universitären Exegese oft nicht mehr viel zu spüren, aber es gibt durchaus noch Vertreter, die sich dieses Ansatzes bewußt sind und ihn aktiv anwenden.

    Meine Frage an Dich wäre: wo siehst Du denn andere Möglichkeiten des Verstehens, wie sehen diese genau aus – und wie machst Du sie so kommunikabel, daß ihnen nicht das Manko der Willkür anhaftet?

    Und zu Deinem letzten Absatz: welche Art von Kirchenleitung schwebt Dir da vor, was muß sich Deiner Meinung nach ändern? Ich hätte da gerne ein bißchen mehr Butter bei die Fische, bislang kann ich mit diesen Andeutungen nicht viel anfangen.

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