Früher war Anthropologie (die Lehre vom Menschen) für mich ein hauptsächlich biologisches und philosophisches Thema. Dabei verschmelzen beide Bereiche immer wieder, gerade wenn es um die wirklich wichtigen Fragen geht: „was ist es, was den Menschen zum Menschen macht?“, „Ist Humangenetik ethisch vertretbar oder nicht?“. Gelegentlich tauchen auch historische Themen auf, wenn man beispielsweise Gehlen liest oder etwas über die Eugenik des Dritten Reiches.
Zu den biologischen Fragen kann ich Euch einen längeren Besuch im Hygienemuseum in Dresden empfehlen, vor nicht langem war ich erstmalig da und ich bin echt begeistert.
In letzter Zeit betrifft und beschäftigt mich das Thema mehr und mehr aus theologischer Sicht. Biblisch betrachtet ist ja gerade die Frage nach der Einheit des Menschen angesichts der dicho- oder trichotomischen Menschenmodelle der Bibel interessant. Durch eine teilweise Überbetonung oder sogar richtiggehendes Falschverstehen macher glaubensbewegter Geschwister hat das Thema in den letzten Monaten erneut Brisanz bekommen.
Irgendwann werde ich darüber posten, aber für heute reicht es, dass ich scheinbar zwei völlig gegensätzliche anthropologische Grundmodelle vertrete und lebe. Bei genauer Betrachtung geht das nicht nur mir so sondern den meisten Christen.
Wir gehen davon aus, dass der Mensch von sich aus böse ist. Paulus bringt es im Römerbrief auf einen guten Punkt: ich weiss dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“ (Römer 7,18). Das ist ein Grundgedanke, den er im Römerbrief von verschiedenen Seiten immer wieder neu beleuchtet. Später wurde diese These, nicht zuletzt durch Augustinus, immer mehr erläutert, durch eine durchdachte „Erbsündenlehre“ untermauert und schliesslich unumstössliches Dogma der meisten Christen. ich sehe das genauso: der Mensch ist von Grund auf schlecht, anders kann ich mir diese Welt nicht erklären!
In der Praxis gehen wir aber ganz anders an den Menschen heran. Da suchen wir meist das Gute in ihm. Wir vertrauen darauf, dass er zu guten Entscheidungen fähig ist und sehen in jedem Täter noch das Opfer. Wie oft habe ich schon von Gott Eindrücke bekommen, die mir gezeigt haben <em>warum</em> ein Mensch sich so oder anders verhält? Wie oft habe ich mir dann gesagt: „Gerechtigkeit sieht die Tat; Liebe sieht die Hintergründe?“
Wie es scheint gehen unsere theologische Theorie und die praktische Theorie auseinander. Wir sehen den Menschen mit Augustinus und behandeln ihn nach Rousseau. Trotzdem erzielen wir mit diesem Vorgehen, theoretisch und praktisch, gute Resultate.
Die Frage, die ich mir stelle ist ob es möglich ist, eien Theorie aus einem Guss zu haben, in der wir den Menschen in der als grundschlecht sehen und in der Praxis auch so behandeln, ohne dabei die Liebe und den Dienst zu vergessen.

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17 Kommentare

  1. von der Exegese zur Anthropologie.
    Deine Beobachtung ist sehr richtig. Dass du die Namen Augustinus und Rousseau in einem Atmenzug nennst, lässt mich schmunzeln und mich fragen, welcher der beiden sich jetzt wohl mehr im Grabe rumdreht… :o) Deine letzte Frage wird sich -heute- nicht mehr beantworten lassen. Wir haben sowohl eine extrem negative Anthropologie hinter uns – ausgehend von Augustinus, gipfelnd in Luther- und pendelten in die extrem positive Ansicht des Menschen, ausgehend von Erasmus, gipfelnd in Habermas. Ich weiß nicht, ob wir auch brauchen, eine „Theorie“ über den Menschen zu ergießen, die den Widerspruch der menschlichen Existenz treffend beschreibt. Nur einer hat für mich diese Diastase bisher am besten beschreiben können: Körtner aus Wien, der sagt, der Mensch ist ein Fragment des Ganzen. Die Fragmentarität der menschlichen Existenz – also Fragmentarität als unmoralischer und nicht wertender Bergiff für „Sünde“- beweist sich unweigerlich in der Tatsache des Todes. Die Ganzheit des menschlichen Daseins in der Fähigkeit zur Liebe, des Hoffens und auch des Glaubens. Beides bedingt einander. Beides bereichert. Doch eines korrigiert das andere und wehrt eines faschistischen Antropozentrismus…

  2. wieso meinst du, dass sich die beiden im grabe rumdrehen? habe ich sie falsch wiedergegeben? oder meinst du, sie wären einfach beleidigt, sich zusammen im selben post wiederzufinden?

    ich finde das mit der fragmentarität gut. ich selber helfe mir immer damit, dass es einfach unterschiedliche modelle sind. es muss ja was unterschiedliches herauskommen wenn ich den menschen wirtschaftlich, theologisch, seelsorgerlich usw. betrachte.
    mir fällt dieser widerspruch gerade stark aus, weil ich begeistert fichte lese. dieser ist idealist par excellence, glaubt an das gute im menschen und will mit kant den menschen zu sich selbst befreien. mir kommt es vor, als läse ich theologische texte – echt fast bibelauslegung. und obwohl ich vieles so übernehmen und unterschreiben könnte, gehen wir doch von einem entgegengesetzten menschenbild aus. schon seltsam, oder?
    da macht man sich dann schon gedanken, ob man eventuell in weltsicht und handeln irgendwo inkonsequent ist.

  3. Hi!
    Hach ja, dass ist ja echt so ein Thema, dass ich mich schon ewig wünsche. Das ist ein Konflikt, der sich mir wirklich auch oft bereitet hat.

    Ich bin auf weitere Posts gespannt, muss selber erstmal nachdenken.

    Tolle Themen hier, Storch!

    Chrisse

  4. Nur ein kleiner Tipp: Zum Gedanken der Fragmentarität kann ich sehr ‚Henning Luther: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts‘ empfehlen, bzw. darin das eine Kapitel zum Thema.

  5. gibt es das kapitel irgendwo online? mag nicht das ganze buch kaufen, kaufe schon immer so viele…

  6. Wenn es den so ist, das menschliche Existenz immer auch entfremdet ist, und aber jegliches existenzielles Sein im Essentiellen Sein verhaftet ist, so schließen für mich siche diese beiden Pole nicht aus. Existenz geht mit Entfremdung einher. Aber da schlummert nun auch essentielles Sein in uns.
    Für mich ist das Gute, dass ich in Menschen sehe, und das ist auch empirisch nicht wegzudisktutieren, etwas, das aus dem Handeln Gottes an jedem Menschen resultiert. Ich glaube, dass Gott auch an Leuten ohne Gleuben Gutes bewirkt. Demnach sehe ich Gutes in den Menschen als göttlich an. Als ressourcenorientierter und humanistisch angehauchter Pädagoge mache ich also mich auf die Suche nach dem Guten, das von Gott bewirkt, im Menschen.
    Und das macht Freude…

  7. ich denke, dass die beiden geschockt wären, sich in einem Blogg zu entdecken… :o)
    Wenn du @ Storch das so siehst, dann sind wir wieder bei unserem Thema der Hermeneutischen Schlüssel: Mit welcher Vorgabe deute ich die Welt – in unserem Sinn, mit welcher Vorgabe deute ich den Menschen. Je nachdem, was ich als Brille benutze, komme ich zu verschiedenen Ergebnissen.
    Im Humanismus ist erlösunsdenken rein immanent – nicht ausgeschaltet zwar, aber immanent und inerpersonal – bisweilen interpersonal. Womit wir bei der modernen Psychologie wären… Also, wie so oft: auf den Schlüssel kommte es an…

  8. @ josha:
    ich habe nur mal kurz in tillich reingelesen. für mich klingt es so, als wäre diese ganze entfremdungslehre nix anderes als die lehre von sünde (getrenntsein) und vergebung im gewand hegelscher terminologie. ich wollte das weiter nachlesen, fiel mir nur auf als ich ein paar hegelzitate neben den tillich gelegt habe. bin leider nicht zu weiteren forschungen gekommen. kann auch noch ein paar wochen dauern bis ich die zeit dazu finde.

    @ bernhard:
    guter gedanke. in der theologie habe ich längst damit aufgehört, aber vielleicht suchte ich in der anthropologie immer noch nach einer „weltformel“ die jeden aspekt inkludiert. das wäre vermutlich vergebens. naja, ist auch keine katastrophe, nur wieder mal so ein punkt an dem man über pluralität und logik ins nachdenken kommt.
    ich komme immer wieder zu punkten an denen das tertium non datur nicht mehr stimmt. paradoxien, bei denen beide seiten stimmen. es ist einfach nicht alles ENTWEDER so oder anders. immer öfter ist es gleichzeitig so UND anders.

  9. Genau dieses Gewand halte ich für absolut genial, da ich es (für mich) für absolut kommunikativ anschlußfähig halte.

  10. meinst du? wer kennt schon noch hegel? ich finde modernere metaphern angebrachter. tillich hat halt gemacht, was unser aller aufgabe wäre: das evangelium in eine neue sprache übersetzen. bei ihm war es die der philosophie, bei uns wird es eine kulturelle sein.

  11. Nee, Tillich hat eine systematische Theologie entworfen, die in der existenzialistischen Philosophie inkarnatorisch verhaftet war. Diese Art von Existenzialismus halte ich nach wie vor up to date. Das große Thema unserer Gesellschaft ist nach wie vor Entfremdung: Entfremdung von sich selbst (Identitätsdebatte im Kontext von Inklusion und Exklusion) Entfremdung von unserem Nächsten ( Fair Trade und Gerechtigkeitsdebatten); Entfremdung von der Schöpfung (Umweltthematik) und Entfremdung von Gott (welche wiederum oft als Entfremdung von der Natur erlebt wird).

  12. Mir geht es nicht um Übersetzung irgendwelcher Dinge. Mir geht es um Inkarnation. Wenn ich Kritik z.B. an der Volxbibel hätte, dann ein kritisches Hinterfragen, ob es einfach nur eine Übersetzung ist oder ein inkarnatorischer prozess. Die Reaktionen der Leser lassen zweiteres vermuten.
    Diese Inkarnation der Theologie in den existenzialistischen Kontext halte ich bei Tillich für gelungen.

  13. was bedeutet inkarnation in diesem zusammenhang? das ist ein schlagwort geworden mit dem ich immer weniger anfangen kann.

  14. Nun ja- mein Begreifen von Imkarnation: Im Gegensatz dazu, dass man versucht über „Brücken“ in die Welt zu gelangen, um dort Menschen „heraus zu holen“, verstehe ich Inkarnation mit dem, was Jesus als Vorbild tat, Eine Art „Einswerden mit der Welt“. Als Weizenkorn in die Erde zu fallen, zu sterben, sich mit dem Erdreich verbinden und dann „Fruchtbringen“. Inkarnation ist für mich eine Weiterführung des miss. Begriffs der Inkulturation. Tillich, so meine ich, hat nicht einfach nur den „Code“ des Existenzialismus benutzt, sondern ist selbst Existenzialist geworden. Leuchtet mir ein: Kommunikation geht nur, wenn der Träger der Kommunikation auch im System verortet ist.
    Gott wird Mensch. Theologe wird Existenziallist.

  15. gut, das verstehe ich. oft klingt „inkarnation“ mir, so wie es verwandt wird, nach dem gegenteil dessen was es eigentlich nicht, nämlich nach etwas, was aus etwas anderem hervorgekommen ist (aus dem volk z.b.), während ja inkarnation ist, dass etwas von aussen in etwas anderes hineingeboren wird.

  16. junx junx junx… Ich hoffe, dass ihr den hochgeschätzten Tillich auch richtig versteht. Existnsziallismus hat meiner Meinung nach in der Theologie nix aber auch gar nix verloren. Denn es geht nur um die Wirkmächtigkeit angewandter Worte, deren Inhalt keinerlei sowohl historischer als auch tatsächlicher Wahrheit hat. Die Wahrheit bewahrheitet sich in der Existentialphilosophie nur(!) darin, dass das Subjekt betroffen wird davon. Daher kann Bultmann sagen, dass Jesus nie wirklich leiblich auferstanden ist, sondern nur ins Kerygma hinein. Tillich ruscht gut mit da. Er würde es nicht so formulieren, aber Gottes Realität, wie wir sie kennen lehnt ein Bultmann und auch ein Tillich ab!
    Und Inkarnation ist innerhalb des theologischen Nachdenkens vorweggenommen inder Fleischwerdung des Logos (von außen!!! – richtig, Storch) und nicht von innen heraus. Und das tun die Junx die Satré aufm Leim gegangen sind. Von wegen zum Dasein verdammt… und nun das Beste rausholen. Pah!
    Zum Dasein berufen!

  17. keine ahnung. ich habe tillich nur angelesen. ging halt nur um den einen begriff. vielleicht lese ich den mann später mal weiter, für den augenblick lese ich mich durch eine wekausgabe von fichte und bin begeistert wie sehr gott durch einen so alten philosophen zu mir redet…

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