was ein theologisches system ist, lässt sich nicht so ohne weiteres definieren. früher galten die grossen systeme als „kathedralen des geistes“, in denen man als gläubiger zuflucht finden konnte. heute steht der denominationalismus bei vielen in schlechtem ansehen und niemand würde mehr so grosse worte wie „kathedrale des geistes“ in den mund nehmen. das hauptproblem bei der definition sind allerdings nicht die konotationen die sich mit manchen bergriffen verbinden, sondern dass theologische systeme eine doppelrolle einnehmen. je nachdem wie man sie betrachtet, sind es geistige systeme (gedankengebäude) oder soziale systeme (kirchen, gemeinden, bünde).
um die sache etwas überschaubarer zu gestalten, will ich versuchen, beide ansichten zu beschreiben.

1. theologische systeme sind gedankengebäude
th.systeme sind um eine doktrin herum aufgebaut. die doktrin wird meistens mehr oder minder unmittelbar aus der bibel abgeleitet und bildet das fundament des systems. insofern ist ein solches system erst einmal nichts weiter als eine theologische ansicht.
solche ansichten kommen meist von berühmten theologen oder predigern und sind mehr oder weniger dezidiert ausgeführt. manche theologen wie karl barth haben einen enormen werkekorpus hinterlassen, der mit detailversessenheit theologie betreibt. andere wie bonhoeffer inspirieren mehr durch ihr persönliches zeugnis. aber alle haben sie lehrsätze formuliert, die für andere sinn ergeben.
nun formt sich aber nicht jede lehre zu einem system aus. manche theologen haben innerhalb bestehender systeme, wie dem katholizismus, gewirkt und haben kein komplettes eigenständiges system ausgebaut. das ist gut, denn sonst gäbe es soviele kirchen wie christliche denker und der leib christi wäre noch unüberschaubarer. um von einem th.system sprechen zu können muss noch eine soziale komponente hinzu kommen.

2. theologische systeme sind soziale systeme
theologische systeme können theoretisch im elfenbeinturm entwickelt werden und da bleiben. dann sind sie aber für diese arbeit hier uninteressant. etwas, was seinen weg nicht nach draussen an die öffentlichkeit findet ist schlichtweg uninteressant, weil es niemanden beeinflusst und von niemandem diskutiert wird. ein theologisches system wird dadurch sozial, dass es für eine grössere anzahl von menschen „sinn“ ergibt. ich verwende das wort „sinn“ im normalsprachlichen sinne, als etwas, was schlüssig genug erscheint um es zu vertreten. ein th.system kann also nicht aus nur einer person bestehen, es ist nötig, dass eine gruppe entsteht. wie gross diese gruppe ist und wie sie organisiert ist ist dabei zunächst einmal egal.
es ist offensichtlich, dass theologische systeme spätestens ab da einen hang zum abgrenzen haben müssen. wer sagt, dass er etwa dem system des calvinismus angehört sagt damit auch, dass er nicht dem system der orthodoxie zuzurechnen ist. systeme definieren sich somit weitgehend negativ als etwas, was sie nicht sind. das scheint auch soziologisch schlüssig, denn ein system entsteht durch differennzierung von seiner umwelt. ein wichtiges merkmal th.systeme ist es „verteidigbar“ zu sein. das system muss eine diskutable position bilden. mit luhmann würde man wohl sagen, dass es eine klare „system-umwelt-differenz bilden muss“.

ja nachdem wie viele menschen einem theologischen system glauben schenken um so grösser wird das system. hier geht es von einer gruppe gleichgesinnter bis hin zu einer denomination. normalerweise sind th.systeme abgerundet durch eine struktur und verbindliches schrifttum.

an dieser stelle kommt eine interessante paradoxie zum tragen. ein system, das aus einer gruppe von individuen besteht kann nicht homogen sein. neben erkenntnistheoretischen faktoren, die auch hier zum tragen kommen und alle anhänger die doktrin anders verstehen lassen, bringt jeder eigene ansichten über alles mögliche mit. es ist also nicht zu erwarten, dass jeder anhänger eines th.systems alles glaubt, was das system aussagt. das umso weniger, als bei alten systemen kaum einer weiss, was das system eigentlich wirklich glaubt. nimmt man die katholische kirche als extremes beispiel so hat man es mit einer zugrundeliegenden doktrin zu tun, die sich über einen gewaltigen zeitraum hinweg etabliert hat. in jahrhunderten haben sich zehntausende an der entwicklung dessen beteiligt, was wir heute den katholizismus nennen. es wird zigmillionen seiten in dutzenden sprachen geben, die an dem prozess beteiligt sind, hunderte treffen usw. um die sache dennoch transparent zu halten wurden katechismen geschrieben, die wenigstens die kernaussagen in verständlich kurzer form transportieren sollen.
dennoch spricht man vom system des katholizismus und das system hat anhänger (derzeit rund eine milliarde anhänger…). wenn man in deutschland mit katholiken redet merkt man schnell, dass diese auch nicht alles glauben, was ihr glaubenssystem eigentlich sagt. ich habe schon viele katholiken getroffen, aber alle haben auf befragen gesagt, dass sie z.b. nicht an die unfehlbarkeit des papstes in lehrfragen glauben. überhaupt scheiden sich an der frage des pasttums auch bei den katholen die geister. ebenso an der frage der marienverehrung, des heiligenkultes und einigen weiteren fragen, die mir als protestanten essentiell erscheinen.

theologische systeme sind also ein hochkomplexe angelegenheit, die immer paradox sein wird. ein ganzes wird gebildet aus teilen, die sich mitunter gravierend widersprechen. obwohl das th.system aus sehr uneinheitlichen teilen besteht ist es aber eine oberflächlich mehr oder weniger einheitliche sache. ich ergänze „mehr oder weniger“ weil es in grösseren systemen auch unterschiedliche strömungen geben kann (geben muss?), die aber noch unter demselben dach zusammengefasst werden.
das ist vielleicht auch ein entelechieprinzip: ein system ist mehr als die summe seiner teile. das mag ich natürlich, denn es zeigt deutlich wie falsch die ansicht ist, dass kriche (gemeinde) nur die summe der gläubigen darstellt. damit ist ein th.system immer auch mehr als das, was in seinem katechismus und der imagebroschüre festgeschrieben ist.

th.systeme sind schwer zu greifende organismen, schillernd in ihrer ständigen umwandlung. sie verändern sich mit jeder änderung ihrer anhänger und behalten doch oft über lange zeiträume eine ähnliche form. zeit ist ein problem wenn man sich mit systemen befasst, egal ob th.systeme oder andere. luhmann schreibt: „ein weiteres thema, das alle probleme multipliziert, haben wir bisher ausgespart: die Zeit. jede realitätsbezogene systemtheorie muss davon ausgehen, dass nicht alles so bleibt, wie es ist.“:“(niklas luhmann: soziale systeme, frankfurt main 1987, seite 70)“: mit der zeit entfernt sich ein th.system von seinen wurzeln und nimmt immer mehr komplexität auf. der prozess ist reversibel, wenn das system wieder mitglieder verliert und irgendwann überschaubarer wird. aber zunächst einmal gilt, dass komplexität permanent vermehrt wird.

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8 Kommentare

  1. ..fehler im seitencode?

    ab dem Doppelpunkt in “ luhmann schreibt: “ein weiteres thema, das …“
    ist alles kursiv.

    Alles.
    (bis runter zu “ storchs blog is proudly powered by WordPress
    Entries (RSS) and Comments (RSS).“

  2. (..gestestet mit firewfox, opera (jeweils aktuele version, unter linux (debian sid) und mit dem Internet Explorer… allerdings auch unter linux in emuliertem Windows..

    diese drei Browser verwenden meines Wissen eine jeweils unterschiedliche engine.. also fehler im seitencode, nehm ich an.
    den kursiv-end-tag vergessen..denke ich.

    diese beiden Kommentare von mir können/sollten nach behebung des Probs gelöscht werden.

  3. danek für den tipp. habe mich beim closing-tag vertippt, bzw. das an die falsche stelle gesetzt. ich lass deine kommentare drin, sonst kann ich mich nicht bedanken ohne dass es skuril aussieht….

  4. Hatte endlich Zeit, diesen Arikel von dir in Ruhe zu lesen. Ich beschäftige mich gerade im Rahmen meiner Fortbildungskonzeption sehr mit Systemtheorie. Du benennst Luhmann als Quelle deiner Überlegungen. Auf den stößt man ja ständig. Wie findest du sein Werk? Mich interessieren mehr die soziologischen System-Phänomene, weil ich ja über Organsiationsentwicklung nachdenke. Aber wahrscheinlich kann man Denksysteme und Sozialsysteme – wie du ja auch schreibst – nicht so trennen, weil sie einander bedingen und brauchen. Ich komm halt nur von der anderen Seite ;o)

  5. hi daggi,

    ich denke, wer sich ernsthaft mit systemtheorie auseinandersetzen will, kommt um luhmann nicht herum. der kollege ist da einfach übermächtig.

    trotzdem ist er nicht die quelle meiner überlegungen. ich nutze ihn eher um meine gedanken zu unterfüttern. er hat halt einen theoretischen unterbau geschaffen, der gewaltig ist. für mein thema versorgt er mich mit sehr erhellenden ansätzen und begriffen: autopoiesis, selbstreferenz, systemgrenzen, sinn, komplexitätsreduktion usw. helfen schon manches zu verstehen.
    sein grosser schwachpunkt ist, dass er kaum beispiele hat. er ist eben theoretiker duch und durch und schwächelt in der anwendung. zudem war er ein ziemlicher hirnriese und es scheint ihm nicht sooo wichtig gewesen zu sein, dass man ihn versteht. er zitiert durchgängig englisch, französisch und latein ohne übersetzung (teilweise lange passagen), hat einen sehr anstrengenden schreibstil und sein werk ist ausufernd. 14.000 druckseiten.
    ich empfehle für den anfang eine einführung und danach „soziale systeme“, am besten noch mit einem glossar dabei. soziale systeme ist seine eigene einführung zu seinem werk. es ist bezeichnend, dass diese einführung schon 700 seiten hat (in dem üblichen kleinen druckbild der suhrkamp-TB).

    viel spass dabei. vielleicht können wir ja mal mit josha zusammen einen luhmannabend machen.

  6. Danke. Ich habe hald den Frederic Vester gelesen, der war seeehr praxisbezogen und hat mir echt entsprochen. Na mal sehen in welcher Bib ich den Luhmann finde. Kaufen werd ich ihn wohl eher nicht, wenn der so umfangreich ist…
    Liebe Grüße
    Daggi

  7. vester und luhmann sind nicht zu vergleichen, auch wenn beide über systeme schreiben. ich habe „unsere welt – ein vernetztes system“ mal halb quergelesen und würde aus der erinnerung sagen, dass luhmann erheblich weiter und tiefer geht.
    und es empfiehlt sich den guten nik mit bleistift zu lesen (vielleicht aber auch nur eine präferenz von mir). obwohl ich kein luhmann-jünger bin, sehen meine „sozialen systeme“mittlerweile fast so bunt aus wie eine alte bibel…

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