Diese Aussage Rudolf Bultmanns über das Leben Jesu wollte ich Euch nicht vorenthalten, da sie eines gewissen Humors nicht entbehrt:

Denn freilich bin ich der Meinung, dass wirvom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren. (Rudolf Bultmann)

Abgesehen von offensichtlich diskutierbaren Dingen wie „fragmentarisch“ (was soll an der Überlieferung des NT fragmentarisch sein) und „Legendenüberwucherung“ (seit wann wird eine Geschichte in nicht mal 50 Jahren legendenüberwuchtert?) ist die Vorstellung, dass sich die christlichen Quellen (des NT) nicht für Jesus interessieren schon kurios.

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17 Kommentare

  1. Auch die Aussage, dass andere Quellen über Jesus nicht existieren ist so nicht richtig. Es gibt römische Geschichtsschreiber, die durchaus von Jesus berichten und damit sein Leben und seinen Tod am Kreuz dokumentieren.

  2. das stimmt. so geschätzte 10 Quellen gibt es da noch. das meiste ist leider verloren gegangen.

  3. Außerbiblische Quellen über Jesus gibt es natürlich – wichtig sind sie im wesentlichen allerdings nur hinsichtlich der Frage, ob es den Menschen Jesus überhaupt gegeben hat, sowie hinsichtlich der Festellung, daß er tatsächlich gekreuzigt wurde und sich anschließend schnell eine relativ breite Anhängerschaft bildete. Bultmann war sich der Existenz dieser Quellen (Flavius Josephus etc.) sehr wohl bewußt, nur geht es ihm in dieser Aussage eben um „Leben und […] Persönlichkeit“ Jesu, nicht um historische Minimalbefunde, so wichtig diese auch sein mögen.

    Vor dem Hintergrund der Bultmannschen These des „kerygmatischen Christus“ wird das Zitat auch in Blick auf die anderen Inhalte durchaus verständlich.

    Ich halte Bultmanns Theologie in dieser Hinsicht zwar für grundverkehrt, allerdings bedarf es zum Aufweisen dieser Verkehrtheit schon noch weiterer Argumente. So gibt es eben durchaus Beispiele dafür, daß große antike Persönlichkeiten bereits zu Lebzeiten von Legendenbildung umrankt wurden. Auch die Feststellung, die ntl. Berichte über Jesus seien fragmentarisch, läßt sich nicht einfach von der Hand weisen: es fehlen nun einmal fast 30 Jahre „Biographie“!

    Die Fragen müssen deshalb eher lauten: (1) Kann man ohne weiteres einen Analogieschluß vom Befund der antiken Quellenlage bei anderen historischen Persönlichkeiten auf die Person Jesus von Nazareth durchführen? und (2) Wie kann oder muß der Umstand, daß uns das neue Testament Einblick in lediglich ein bis drei Lebensjahre Jesu gibt (abgesehen von einigen wenigen und zeitlich eng begrenzten Spotlights auf die Geburt Jesu und eine Situation als Zwölfjähriger), theologisch bewertet werden?

    An Bultmanns Beantwortung dieser Fragen kann und muß man nun sehr zurecht Kritik üben – und Gott sei Dank wurden und werden auch nachfolgende Schülergenerationen Bultmanns (langsam) darauf aufmerksam. 😉

  4. Ich poste ja immer wieder mal was von Bultmann, einfach weil ich es unglaublich finde, wie stark seine Vorgaben waren und wie sehr sie sich dann natürlich auch bestätigten.

    Die Ansicht, dass die ersten Christen sich nicht für Jesus interessiert hätten, ist ja nun wirklich absurd.

    Klar fehlen in der Biographie Jesu einige Jahre. Aber von welcher antiken Persönlichkeit haben wir diese Jahre? Ich kann gerade z.B. an keinen griechischen Philosophen erinnern den ich gelesen habe und dessen Biographie Kindheitserinnerungen umfasste. Vielleicht gibt es einen, ich habe das jetzt nicht nachgelesen, aber das Prinzip würde dadurch nicht ausser Kraft gesetzt.

    Bei Josephus finde ich die Vorgaben mit denen an einen alten Text gegangen wird absolut tödlich. Obwohl Wissenschaftler sagen, dass die strittige Passage über Jesus sich in nichts vom Rest des Buches unterscheidet, lehnen viele sie als nachträgliche Redaktion ab. Einen Beweis dafür habe ich noch nie gelesen. Außer natürlich, dass Josephus nicht vom Messias hätte reden können – aber wieso nicht?

    Die Legendenbildung funktioniert auch nicht so schnell. Innerhalb von wenigen Jahren oder Jahrzehnten wird eine Person nicht komplett umgedichtet – Schon gar nicht wenn man sich dabei noch auf Dokumente beruft, die jedermann einsehen kann.

  5. Du hast meine Zustimmung – mit Ausnahme des letzten Absatzes: es geht Bultmann ja nicht (jedenfalls nicht kategorisch) um eine angeblich komplette Umdichtung der Person Jesu, sondern um das christologische Kerygma. Dieses schließt die historische Existenz und etwa einen bestimmten Charakter der Person Jesu von Nazareth nicht aus – es gibt nach Bultmann aber eben keine Möglichkeit (und, falls hier und da doch, vor allem: keine Notwendigkeit) der Rückfrage nach dieser historischen Existenz. Bultmann interessiert sich wesentlich weniger für die „legendarischen“ Umbildungen der Person Jesu an sich, als dafür, was letztlich damit bezeugt wird und existentiell bedeutsam ist. Genau da mußte natürlich die Kritik einsetzen.

    Mir ging es um den Hinweis darauf, daß Bultmanns Ausführungen durchaus stimmig sind – aber eben nur in sich. Wie Du selbst erwähnst: seine Ergebnisse sind oftmals nichts anderes als die zwingende Folge seiner Prämissen. Daß diese Prämissen äußerst problematisch sind und m.E. größtenteils verworfen werden müssen – keine Frage!

  6. Der Absatz ging auch nicht nur an Bultmanns Adresse. So wie ich Bultmann verstehe ist Christus das, was Du daraus machst. Christus lebt in der Verkündigung und damit ist letztlich der historische Jesus nicht entscheidend. Christentum würde in diesem System auch funktionieren ohne dass Jesus überhaupt gelebt hätte.
    Ich finde den Gedanken, ehrlich gesagt, sehr interessant. Bin aber komplett anderer Meinung. So wie ich es wahrnehme, ist Bultmann in seiner extremen Ausprägung aber ohnehin nicht mehr aktuell, oder? Eher der Vater einer Denkrichtung, den aber die Zeit überholt hat und dessen Theorie stark verändert wurde. Ein bisschen wie Darwin 🙂

    Was mich immer wundert ist das ein so hervorragender Altsprachler (in meinem Kittel sind einige Artikel von ihm) eine so vorgeprägte Geschichtssicht haben konnte…
    Ich hoffe, dass ich mal die Zeit finde, das eine oder andere komplette Buch von ihm zu lesen.

  7. Hmm, Bultmann würde wohl nicht zustimmen, daß „Christus das [ist], was Du daraus machst“ – das Kerygma wird bei ihm ja als gegeben vorausgesetzt. Daß es allerdings ohne historischen Jesus existieren könnte, ist in der Tat Bultmanns Auffassung.

    Was seine Aktualität angeht: Wenn ich das richtig beobachte, gibt es da vier Gruppen. Die erste ist die der klassischen Bultmannianer, die aber nur noch sehr selten anzutreffen sind. Dann gibt es die verschiedenen Schülergenerationen Bultmanns, die seinen Ansatz weiterentwickelt oder modifiziert haben – die sind häufig anzutreffen. Mindestens ebenso häufig sind diejenigen, die ich „Krypto-Bultmannianer“ nennen würde – so krypto, daß sie sich ihrer Prämissen, die mit denen Bultmanns viel gemein haben, und deren Reichweite oftmals kaum oder gar nicht bewußt sind. Eine wiederum kleinere Gruppe ist die der offenen Bultmann-Gegner, meist im weitesten Sinne dem evangelikalen Spektrum zuzuordnen, aber nicht nur.

    Ich kann mich nicht so recht entscheiden, welche dieser vier Gruppen mich am meisten ärgert. Ich vermute, die der Krypto-Bultmannianer. Diese Mischung aus, naja, ich sage jetzt einfach mal „Häresie“ und intellektueller Unbedarftheit ist grausig. Aber auch die Bultmann-Gegner können schlimm sein, weil sie zwar oft ganz genau wissen, wogegen sie sind, ihre eigene Theologie aber nicht selten auf ebenso wackeligen Beinen steht. 😉

  8. Auch wenn Bultmann nicht zustimmen würde, läuft es aber doch darauf hinaus, oder? Wenn mit dem historischen Jesus das Korrektiv für den verkündigten Christus wegfällt, dann ist Christus letzten Endes das, als was er verkündigt wird.
    Das zeigt sich am stärksten in der Annahme, dass Christentum auch ohne den historischen Jesus existieren kann. Wer will dann noch sagen, wer Christus ist?

    Seltsam finde ich, dass es ähnliche Tendenzen, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, auch in manchen charismatischen Kreise gibt, in denen der erfahrene Christus über aller Historie und Schrift steht und so seltsame Gottesbilder entstehen, die auch ohne Korrektiv dastehen.

    Interessant, was Du über die vier Gruppen schreibst. Ich schätze, dass Du Dich da auch sehr auf Universitätstheologen beziehst, oder?

  9. Naja, aus der Nummer kommen wir nicht raus: was haben wir denn als „historischen Jesus“? Neben den wenigen und inhaltlich wenig aufschlußreichen außerbiblischen Quellen „nur“ die neutestamentlichen Berichte, die bereits immer auch ein deutlich „werbendes“ Interesse haben. Das hat Bultmann richtig erkannt, wenn auch völlig überbetont: natürlich war für die Verfasser der historische Jesus ungemein wichtig.

    Letztlich nimmt das NT damit in der historischen Wissenschaft einen Platz ein, wie jedes andere historische Dokument auch: es geht um den weltanschaulich vorbedingten (weil von einem spezifischen Geschichtsverständnis her geprägten) Umgang mit einer Quelle, die ihrerseits immer auch interessegeleitet ist. Ein eindeutiges historisches Korrektiv kann es demnach in keinem Bereich und für keinen von uns jemals geben.

    Diesen Umstand kann man nun entweder ignorieren (wie es vor allem diejenigen Hobby-Historiker tun, für die es ausgemachte Sache ist, daß die Bibel ein Produkt von Spinnern ist, während sie in anderen Bereichen der Geschichte gerne von „Fakten, Fakten, Fakten“ sprechen), oder man läßt sich davon zu einer fatalistischen Einstellung Geschichte gegenüber hinreißen, bei der Geschichte dann in der Tat das ist, „was man daraus macht“.

    Oder aber man versucht, sich die Uneindeutigkeit von Geschichte insgesamt und die Grenzen der Geschichtswissenschaften im besonderen einzugestehen. Ich denke, Bultmann hat ersteres überzogen, indem er den historischen Jesus für letztlich irrelevant für den Glauben erklärte – und letzteres zu wenig bedacht, indem er meinem Verständnis nach ignorierte, daß er mit seinem eigenen, sehr einseitigen Geschichtsverständnis Tür und Tor für Spekulationen jeder Art öffnete.

    So gesehen trifft Deine Kritik – und dennoch muß man betonen, daß das Kerygma für Bultmann eben durchaus gegeben ist und nicht erst entdeckt oder gar produziert werden muß. Ich glaube, darin hat man dem Theologen, vor allem aber der Person Bultmann immer wieder Unrecht getan: Es ging ihm nicht um Willkür und Selbstbehauptung in Sachen Theologie und Glaube – sondern um redliche Verkündigung des unverfügbaren (!) Evangeliums angesichts einer radikal veränderten Welt. Er hat sich dabei nur leider auf zu viele problematische Prämissen verlassen. Grundsätzlich ist ihm damit etwas passiert, was Theologen und Christen überhaupt jeglicher Couleur immer wieder passieren kann und wird: daß sie zwar mit dem unverfügbaren Evangelium umgehen, aber nun einmal selbst fehlbar sind – und deshalb nie davor gewahrt sind, über das unverfügbare Evangelium verfügen zu wollen.

    Es wäre lohnenswert, einmal genauer zu untersuchen (dazu kenne ich mich bei ihm leider zu wenig aus), wie sich bei Bultmann Kerygma und biblischer Kanon zueinander verhalten. Wie gesagt, für Bultmann ist das Kerygma schon gegeben, es geht also nicht darum, daß Christus letztlich immer derjenige ist, der aktuell (als wer oder was auch immer) verkündigt wird, sondern um die Aktualisierung des bereits bestehenden Kerygma. Sprich: bei Bultmann könnte man das Kerygma selbst bereits durchaus als Korrektiv bezeichnen. Nur: würde er in gleicher Weise den biblischen Kanon als solches gelten lassen? Und, falls ja – untergräbt er dann nicht die Funktion des Korrektivs, indem er dieses seinen eigenen Prämissen unterwirft?

    Für mich scheint es so, als ersetze Bultmann die Bibel einfach durch „das Kerygma“ – und vor diese Wahl gestellt, habe ich nun wirklich mehr Zutrauen in eine Schriftensammlung, die zwei Jahrtausende mehr oder weniger unverändert überstanden und getragen hat, als in einen luftigen Begriff, der mir wesentlich stärker von der damals eben gerade modernen Existenzphilosophie geprägt zu sein scheint als von gläubigem Zutrauen in die Überlieferung.

    Oder, um es klipp und klar zu sagen: ich halte vieles, sehr vieles z.B. der neutestamentlichen Berichte um sehr viel mehr für historisch glaubwürdig, als man an einer theologischen Fakultät oder gar vor manchen Kirchenleitungen zugeben sollte, wenn man nicht als Spinner abgestempelt werden möchte. Bei Bultmann dagegen habe ich zwar ab und an schon wirklich sehr erbauliche Dinge gelesen, insgesamt aber klingt mir sein „Kerygma“ einfach allzu offensichtlich nach einem gescheiterten theologiegeschichtlichen Kapitel.

    Wobei wir wieder bei der universitären Theologie wären: ja, meine Einteilung in vier Gruppen bezog sich auf Universitätstheologen – wobei man vermutlich auch unter Pfarrern und Pastoren etc. ähnliche Beobachtungen machen kann.

  10. Ich finde den verwandtschaftlichen Bezug
    sogar bis hin zu den Philamonikern
    höchst interessant. -erstrebenswert.

  11. Tobias, tue mir einen Gefallen und sei/werde Uni-Theologe. So eine schöne Verbindung von kritischem Geist und Grundvertrauen in die Quellen treffe ich in der exegetischen Wissenschaft selten an.

  12. @Daniel D:

    Ich werd’s mir mal durch den Kopf gehen lassen! 😉

  13. wer hätte gedacht, dass der olle rudi noch ‚mal aus der versenkung auftaucht… der is‘ doch so ‚was von old skool…
    ich erinnere mich an eine anekdote… rudi is‘ ‚mal gefragt worden, ob er schon ‚mal in israel war… seine antwort: „nein! warum – was soll ich denn da?“
    ich fand das sehr bezeichnend!
    der gedanke, etwas kontextuell zu verstehen, scheint ja damals noch nicht so verbreitet gewesen zu sein…

    immerhin… rudi’s gedanken standen ja mehr oder weniger am ende einer langen kette von gedanken, die nicht erst mit lessing begonnen hat und eine reaktion auf die leben-jesu-forschung war… auch rudi’s gedanken sollten m.E. aus seiner zeit heraus verstanden werden, einer zeit des unbegrenzten fortschrittoptimismus zum beispiel… seine gedanken waren ein versuch, in eine bestimmte zeit hinein in bestimmte voraussetzungen hinein das evangelium neu zu verkündigen… seine predigten würden auch heute noch problemlos in vielen landeskirchlichen gemeinschaften durchgehen…

  14. ich möchte meinen, dass seine Denke für viele heute noch absolut aktuell ist, von daher ist er nie in der versenkung verschwunden und wir kommen um die beschäftigung mit ihm nicht ganz rum.

  15. dem kann ich nicht widersprechen…

  16. Interessante Diskussion!

    Vor allem, weil ich sie vor 20 Jahren ähnlich geführt habe wie theolobias und storch.
    Jede (denkende und sich theologisch bildende) Generation kommt an Bultmanns Thesen nicht vorbei, besonders wenn ein bestimmtes theologisches Milieu im Hintergrund steht, das mir nicht fremd ist.
    Gottes Segen auf eurem Erkenntnisweg!

    Aber bitte mit Begriffen wie „Krypto-“ und „Häresie“ geizen. Der Apostel Paulus war auch nur dann unerbittlich, wenn für ihn die Wahrheit des Evangeliums auf dem Spiel stand.
    Und die Wahrheit des Evangeliums hängt nun wirklich nicht am „historischen“ Jesus. Immerhin das haben wir Bultmann zu verdanken.

  17. vermutlich hast Du Recht, Knuuut, manches muss man immer wieder besprechen. Was ist denn bei Dir seinerzeit rausgekommen?

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