Vielleicht ist es ja gar nicht so, wie wir uns immer gerne glauben machen wollen, dass man Veränderungen bewirken kann. Wobei ich unbedingt glaube, dass man sich selber verändern kann, aber bei anderen und gerade ganzen Gesellschaften bin ich schon etwas skeptisch. Wenn ich in der Geschichtsliteratur herumlese, habe ich immer wieder den Eindruck, dass es Zeiten gibt, die für eine Idee einfach reif sind. Es kommt mir so vor, als gelegentlich eine Veränderung in der Luft läge und einfach nur darauf wartet, sich in Gedanken oder Taten zu manifestieren.
Ich weiss, dass das seltsam klingt, so als anthropomorphisierte ich die Veränderung und gäbe ihr Züge eines denkenden und handelnden Wesens. Das tue ich an und für sich nicht. Aber dennoch glaube ich an reife Zeiten. Es gibt für solche Zeiten ein griechisches Wort: kairos. Im NT werden zwei Worte für Zeit verwendet, chronos, was einfach Zeit bedeutet, die Zeit, die mit jedem ticken des Sekundenzeigers verstreicht. Und kairos, was machmal als die „gelegene Zeit“ übersetzt wird. Göttliche Zeitpunkte, in denen es dran ist, irgendwas zu zun.
Vielleicht ist die Veränderung von Gesellschaften ähnlichen Gegebenheiten unterworfen. Vielleicht gibt es einfach kairoi, an denen etwas dran ist. Je nachdem, welche Person das wahrnimmt, äussert sich die Veränderung in Gedanken oder Taten.
Es ist ja eigentlich so, dass die meisten grossen Gedanken schon gedacht wurden, bevor sie auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Auch die meisten Taten, die zu anderen Zeiten viel bewirkten, wurden schon getan, ohne viel bewirkt zu haben. Es wurden Gefängnisse vor der Bastille gestürmt und von Freiheit wurde auch gesprochen, aber interesiert hats keinen – bis zur französischen Revolution; dann fiel beides auf einmal auf fruchtbaren Boden, weil die Zeit reif war.
So ist es mit allen Umwälzungen, es gibt immer einen, der vorher dasselbe gedacht hat wie die Luthers, Marxens und wie die Weltbeweger alle hiessen. Aber nur bei einigen hat es eingeschlagen. Zu einer anderen Zeit hätten sie nie Erfolg gehabt. Oder kannst Du Dir vorstellen, dass Hitler heute einer wählen würde? Den Schreihals? Oder dass jemand sich umbringt weil er Goethes „Werter“ liest? Jede grosse Idee, egal ob zum Guten oder zum Bösen, ist zu einem grossen Teil Produkt ihrer Zeit. Ebenso sind die meisten Handlungen recht bedeutungslos, ausser die Zeit gibt ihnen Bedeutung.

Natürlich schliesst sich auch hier eine Diskussion an: war es nicht vielleicht doch die Idee oder die Tat, die Zeit geändert hat und nicht die Zeit, die Idee und Tat ermöglichte? Sicher kann man sich das vorstellen, aber man muss schon eine romantische Ader haben um es wirklich zu glauben. Ich halte es für viel wahrscheinlicher, dass Taten und Gedanken Ergebniss einer gelegenen Zeit sind, als dass sie deren Auslöser sind!

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8 Kommentare

  1. „Zur richtigen Zeit am richtigen Ort…“, sagt der Volksmund doch.

    Taten sind nie bedeutungslos.Selbst wenn du „nur“ dich und einen oder zwei Nächste erreichst, so hast du doch viel erreicht. Manchmal entsteht Dynamik, manchmal nicht, aber letztendlich ist doch die Tat immer Pflicht eines Christenmenschen…warum müssen es immer gleich globale Verändeurngen sein ? Wenn Gott will, dass deine Idee (oder ist es seine ?) und deine Tat zu Eigendynamik führt, so wird das schon.

    Die Diskussionen, was Veränderung bewirken kann befremden mich immer etwas…um was geht es dabei ? Eine Art Rezept zu entdecken ?

  2. Ja, ich glaube auch an solche Kairoszeiten. Und ich denke, dass sich gegenwärtig die Zeichen verdichten, dass wir in einer ebensolchen Kairoszeit leben, in der Umwälzungen (in unserem Denken und Handeln) bevorstehen, die so grundlegend sind, dass wir sie noch kaum erfassen können…Darum geht es m.E. in der ‚Emerging Church‘-Diskussion, auch wenn das (mit Postmoderne) oft superoberflächlich verstanden wird und dann lächerlich wirkt…

  3. es tauchen immer neue facetten unseres themas auf. vor dem handeln und dem denken kommt der kairos. ich glaube, da ist etwas dran. seit einem jahr bin ich in einem zunehmenden veränderungsprozess. er wurde ausgelöst und immer wieder beeinflusst durch neue schritte, die ich gegangen bin oder die ich gegangen wurde. das ist zunächst meine ganz persönliche geschichte.

    parallel dazu erlebe ich jedoch, dass die dinge, die ich auf diesem weg entdecke, bei vielen anderen auch auf die tagesordnung kommen. von daher ist es wohl auch ein göttlicher kairos, der mich beeinflusst. es liegen sachen in der luft, die viele von uns – unabhängig voneinander – auf neue fährten setzen. irgendwo (z.b. auf unseren blogs) treffen wir uns dann als kairos-genossen.

    in meinem comment von gestern habe ich bewusst neben unser aktives handeln (unsere taten) auch passives handeln (erfahrungen, erschütterungen) gestellt. die wichtigsten veränderungen passieren, weil etwas an uns handelt, etwas mit uns geschieht, über das wir nicht verfügen. wir können nur auf das reagieren, was der kairos uns schenkt.

  4. das mit dem passiven handeln gefällt mir – da wird an uns gehandelt, durch erfahrungen oder eben einen externen willen. nimmt man den kaitos dazu hat man auf einmal gott auf der rechnung. für mich wird die sache immer runder: gott geht seinen weg mit uns und damit gibt es immer wieder kairoi, die wir erkennen, erdenken, erfühlen – wie man will, wir gehen darauf ein (handeln) und werden so weiter verändert. je mehr wir darauf eingehen umso mehr wird unser handeln für andere transparent und attraktiv und es kommt zu einer kettenreaktion (möglicherweise).

    bin immer dankbarer für diese diskussion, wird immer lehrreicher und inspirierender!

  5. Darum ist Wachsamkeit so bedeutsam.

  6. wieso, was hat wachsamkeit damit zu tun?

  7. Um „kairoi“ zu erdenken, zu ertasten und zu erfühlen…da diese doch auch „innere“ kairoi sein können.

  8. okay. wobei ich dann nicht von inneren kairoi reden würde sondern davon ausginge, dass der kairos sich in meinem sensibilisierten denken und fühlen widerspigelt/offenbart.

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